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Es werden Posts vom Oktober, 2024 angezeigt.

Leben wie ein gespaltenes Pendel

 In JJ Bolas "Kein Ort für ein Zuhause" steckt vermutlich ein ganzes Stück Autobiographie: Wie sein Protagonist Jean wurde er in Kinshasa geboren und wuchs in London auf. Der Originaltitel "No place to call home" drückt noch deutlicher die Verlorenheit der Familie aus, die versucht, sich mit unsicherem Rechtsstatus ein Zuhause aufzubauen und eine Identität in der Fremde zu finden. Bola erzählt einerseits die Coming of Age Geschichte des 16-jährigen Jean, andererseits aber auch die Geschichte von dessen Eltern, die für das Band zur alten Heimat und der Verhältnisse dort stehen. Jean und seine jüngere Schwester Marie stehen für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Der Vater, der in Belgien Medizin studierte, arbeitet zwei Jobs als Sicherheitsmann und Reinigungskraft, die Mutter, die einst ein gehobenes Lyzeum in Kinshasa besuchte, als Hilfskraft in der Cafeteria von Maries Schule. Die Kinder sollen lernen, Leistung zeigen, erfolgreich sein, sie sollen es schaffen im...

Tieftraurig und hoffnungslos - der traurige Kommissar und die Selbstmordserie im Kinderheim

 Einerseits ist "Der Schatten einer offenen Tür" des belarussischen Exil-Autoren Sasha Filipenko ein Stück Kriminalliteratur, geht es doch um die Ermittlungen eines Moskauer Kriminalkommissars in der nordrussischen Provinz. In einer Kleinstadt, in der ein Kinderheim, ein Gefängnis und ein psychiatrische Klinik die größten Jobchancen für die Einwohner zu bilden sein, soll er eine Selbstmordserie aufklären. Vier jugendliche Bewohner des Kinderheims sind tot. Waren es am Ende gar keine Selbstmorde? Zugleich ist der Roman ein Porträt einer perspektiv- und hoffnungslosen Gesellschaft, in der im Zweifelfall Brutalität und Intrigen den Sieg davontragen. Alexander Koslow, der aus Moskau geschickt wurde, um die Selbstmordserie aufzuklären, ist nach dem Scheitern seiner Ehe selbst tieftraurig und steht in der Provinz auf verlorenem Posten - der örtliche Polizeichef ist wegen eines vorangegangenen Falls schlecht auf ihn zu sprechen - und hat selbst bereits seinen Verdächtigen, den naive...

Düsterer Abschluss der Gereon Rath-Reihe

 Der Titel kommt mit einem Wort aus: "Rath" heißt der zehnte und letzte Band von Volker Kutschers Reihe um Gereon Rath, den Berliner Kriminalbeamten, dessen Fälle und persönliche Geschichte die Leserinnen und Leser seit der Spätphase der Weimarer Republik bis ins nationalsozialistische Deutschland verfolgen konnten. Mehrfach totgesagt, überlebte Rath bis zu dem im Jahr 1938 spielenden Abschlussband. War in den ersten Bänden im Berlin der späten 20-er Jahre noch so etwas wie ein Tanz auf dem Vulkan spürbar, ist der letzte Band reichlich düster - Kriegsgefahr am Horizont, das Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei preisgibt, die Reichspogromnacht. Zwar hat Kutscher mit seinen Romanen eine treue Leserschaft gefesselt, Fernsehzuschauern ist der Name Gereon Rath hingegen auch durch die Serie "Berlin Babylon" bekannt, die allerdings sehr frei mit den Figuren umgeht. So ist Charlotte Ritter, Raths spätere Ehefrau, in der Filmfassung eine junge Frau aus dem Proletariat...

Kriegstagebuch aus der Distanz

 Es gibt Tagebuchschreiber, die halten ihre persönlichsten Gedanken nur für sich fest - und andere, die schreiben bereits mit dem Gedanken an ein (Lese-)Publikum. Saul Friedländers eher analytisch als persönliches Tagebuch "Israel im Krieg" gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Der renommierte Historiker weiß um die historische Tragkraft der Ereignisse, über die er, ausgehend vom 7. Oktober, schreibt. Und er hat von Anfang an den Gedanken, seine Beobachtungen, Analysen, Eindrücke in Bezug auf das zuvor veröffentlichte Tagebuch zur Innenpolitik Israels im Streit um die Justizreform fortzusetzen, denkt an eine Veröffentlichung beider Texte in einem Band. Was Friedländers Tagebuch etwa von dem vor wenigen Wochen  veröffentlichten Tagebuch Dror Mishanis unterscheidet - das Persönliche wird stark zurückgenommen, Friedländer beobachtet die Entwicklung in seiner Heimat mit dem Blick eines Wissenschaftlers, weniger eines Betroffenen. Der Ansatz ist distanziert, buchstäblich: Frie...

Letzte Stunden, letzte Stimmen

  Lee Yaron ist Journalistin der liberalen israelischen Zeitung "Haaretz", einer Zeitung, die schon seit jeher immer wieder auch über die israelischen Palästinenser und die Geschehnisse in Gaza und im Westjordanland berichtete, die kritisch zum Siedlungsbau und der Regierung Netanjahu steht. In ihrem Buch „Israel, 7. Oktober“ erzählt sie von den letzten Stunden der Menschen, die bei den Anschlägen ums Leben kamen, von denen, die zwar überlebt haben, aber schwer traumatisiert sind von dem Erlebten und dem Tod von Freunden und Angehörigen.  Damit ist sie nicht alleine - in den vergangenen Monaten erschienen mehrere Bücher, in denen der Terrorangriff aufgearbeitet wurde, in denen auch Angehörige der Geiseln ihre Perspektive schilderten, etwa wie Ron Leshems "Feuer". Doch Yaron blickt über die "heimischen" Opfer hinaus, widmet sich auch denen, die in den Geschichten über den 7. Oktober seltener erwähnt werden. So berichtet sie nicht nur von Kibbuzbewohnern, so...