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Es werden Posts vom Mai, 2021 angezeigt.

Beziehungsweise - Leute wie wir

 Welche Erwartungen sind an eine gemeinsame Zukunft als Paar zu stellen - wenn der erste Hormonrausch des Dauerverliebtseins verflogen ist, wenn der Alltag Einzug gehalten hat, wenn Kinder aus der Zweisamkeit eine Familie mit ihrer ganz speziellen Dynamik gemacht haben? In "Leute wie wir" spürt die britische Autorin der Geschichte zweier Paare nach, die mit Alltag und Beziehungsfrust zu kämpfen haben, vier Enddreißiger, denen die Träume ihrer Jugend noch in frischer Erinnerung sind und die sich fragen, ob der Zug für Träume schon abgefahren ist. Michael etwa, der langjährige Freund der Modejournalistin Melissa, sehnt sich nach der Ungebundenheit der frühen Jahre. Flirten, keine Verpflichtungen haben, die Leichtigkeit, die es einst in der Beziehung gab. Melissa dagegen, seit der Geburt des zweiten Kindes zu Hause und nur noch dann arbeitend, wenn das Baby schläft, ist frustriert mit ihrem Leben und fühlt sich von Michael nicht ausreichend gestärkt. Hinzu kommt, dass das Haus,

Die Summe der Gemeinsamkeiten wird kleiner - Der tiefe Graben

 Wie konnte es möglich sein, dass ein Mann wie Donald Trump Präsident der USA werden konnte? Der Machtwechsel im Weißen Haus lässt zwar wieder mit etwas mehr Hoffnung über den Atlantik blicken, doch schon allein die Zahl der Menschen, die Trump die Stimmen für eine Wiederwahl gaben, muss nachdenklich stimmen. In seinem Buch "Der tiefe Graben" versucht der Journalist Ezra Klein eine Erklärung und liefert dabei zugleich eine Analyse des Parteiensystems, der jeweiligen politischen Blasen und des Grabens. der nicht nur innergesellschaftlich immer tiefer wird, sondern auch zwischen den politischen Eliten oder den Bevölkerungen an den Küsten und in der Weite des Landes. Eine interessante Erkenntnis: Die Unterschiede zwischen den Parteien sind in einer ganzen Reihe von Punkten gar nicht so groß wie die zwischen den Anhängern der Parteien. Die Bereitschaft, den anderen mit seinen Ansichten nicht nur abzulehnen, sondern einen geradezu persönlichen Groll zu spüren, habe dagegen zugenom

Anarchie und Ganovenehre - Die Kobra von Kreuzberg

  Das ist Pulp Fiction vom Feinsten: Beverley Kaczmarek, Spross eines Ganovenclans aus Opole, will es ihrer Familie endlich mal beweisen. Sie hat genug davon, als das angeblich unfähige Nesthäkchen belächelt zu werden. Gerade können sich ihre älteren Brüder dank des Diebstahls zweier Fabergé Eier im Ruhm sonnen - da muss Beverley noch eins drauf setzen. Das ist ganz klar eine Frage des Diebesehre! Ihr Coup soll ihr endlich den verdienten Respekt der Familie verschaffen, womöglich gar einen Artikel im internationalen Fachmagazin der Branche, dem Heist Journal! Einfacher Kunstraub ist nichts für Beverley: Sie will die Quadriga vom Brandenburger Tor klauen - und auch mit den logistischen Herausforderungen fertig werden. Immerhin: wie ist so eine Beute wegzuschaffen? In "Die Kobra von Kreuzberg" bedient sich Michel Decars eines wunderbar schrägen und trashigen Humors und rasanten Tempos. Durch das ganze Buch zieht sich ein wunderbarer Hauch von Anarchie, mit Seitenhieben auf die

Väter, Söhne, Schuhe - Im Reich der Schuhe

 Die Rolle als Kronprinz des "Kaisers der Schuhe" hat nicht nur Vorteile: Alex Cohen, Sohn eines Schuhfabrikanten in China, muss es erst noch schaffen, sich aus dem Schatten seines Übervaters hervorzuarbeiten. Wie sehr er als verkleinerte Fortsetzung des Macher-Menschen gesehen wird, zeigt sich schon an der Tatsache, dass sowohl die Angestellten des Hotels, in dem die Cohens wie all die anderen Expats leben, als auch die Mitarbeiter der Schuhfabrik ihn als "Mr Younger Cohen" anreden. In Spencer Wises Roman "Im Reich der Schuhe" geht es aber nicht nur um eine Vater-Sohn-Geschichte, sondern auch um Identität und Herkunft, um eine Liebe über soziale und kulturelle Schranken hinweg, um ein China, dessen wirtschaftlicher Erfolg von Wanderarbeiten bezahlt wird, die der Perspektivlosigkeit des Dorfes entkommen wollen, in den Städten aber nicht ankommen dürfen. Als Cohen Senior Alex zum Teilhaber befördert, könnte das eine Krönung der bisherigen Laufbahn des 26-jä

Landkarten und Fernweh - Inseln

 „Die Kartierung einer Sehnsucht“ heißt das Buch „Inseln“ des schottischen Arztes und Schriftstellers Gavin Francis im Untertitel – und das ist wortwörtlich zu nehmen. Denn das Buch ist reich illustriert mit alten Landkarten, die sich mit entlegenen, oft wenig bekannten Inseln befassen. Von ungefähr kommt das nicht, denn wie Francis gleich zu Beginn des sehr persönlichen Texts erläutert, faszinierten ihn schon als Kind die Abbildungen eines alten Atlas in der Stadtbücherei. Millenials und die ihnen folgenden Generationen können es vermutlich gar nicht mehr nachvollziehen, was der Atlas für den Jungen bedeutet hatte, der sein Fernweh mit dem Finger auf der Landkarte und seiner Vorstellungskraft stillt. Schließlich wuchs Francis noch zu einer Zeit auf, als Fernreisen bei weitem nicht so verbreitet waren und die Information selbst über entlegene Gebiete nur einen Mausklick entfernt aus dem Internet abrufbar. Geplant war „Inseln“ als „persönliche Reise durch Landkarten und Inselgeschic

Die Magie des Bienenflüsterers - mexikanisches Familienepos

 Ein bißchen Magie steckt in vielen Werken lateinamerikanischer Autoren, und Sofia Segovias "Das Flüstern der Bienen" macht da keine Ausnahme. Episch und farbenfroh ist die Geschichte einer mexikanischen Großbesitzerfamilie aus der Zeit der Revolution und ihres Findelkindes Simonopio. Die Amme des Haziendero, die schon dessen Vater aufgezogen hatte und mit den Jahren immer mehr an eine in sich ruhende, steinerne Figur erinnert, hat sich zum ersten Mal seit langem aus ihrem Schaukelstuhl erhoben und unter einer Brücke ein offenbar ausgesetztes Neugeborenes gefunden, das ganz von einem Schwarm Bienen bedeckt wurde. Der Anblick des Jungen, dessen Mund durch einen gespaltenen Oberkiefer entstellt ist, entsetzt abergläubische Landarbeiter - der Patron Francisco aber zieht Simonopio als sein Patenkind auf.  Für den kleinen Francisco, den Jahre später geborenen Sohn des Landbesitzers, wird er ein enger Freund und großer Bruder werden. Simonopio kann aufgrund der Kiefer-Fehlbildung n

Familiengeschichte und Nahostkonflikt

 Es liegt sicher auch am Thema, dass Daniel Specks Familienroman "Jaffa Road" nahezu 700 Seiten lang geworden ist (das Lesen hat denn auch ein Weilchen gedauert, habe schließlich noch einen Fulltime-Job): Nicht nur eine generationsübergreifende Familiengeschichte, sondern auch ein an persönlichen Schicksalen erzählter Abriss des Nahostkonflikts und seiner historischen Verflechtungen. Da die Hauptfiguren deutsch, israelisch und palästinensisch sind, ist schon vorprogrammiert, dass sie sich auf zerbrechlichen Boden bewegen - umso mehr, als hier auch noch eine fremde und entfremdete Familie zusammenfinden muss. Da kommt schon mal ein epischer Roman zusammen - allerdings lesbar und auch für den fachfremden Lesern einfach zugänglich. Teilweise knüpft "Jaffa Road" an Daniel Specks Roman "Piccola Sicilia" an, den ich allerdings nicht gelesen habe. Möglicherweise wissen die Leser des ersten Buchs mehr über die Figuren und ihre Geschichte, es ist aber kein Problem,

Ein Roadtrip voller Überraschungen - der erste letzte Tag

 Eigentlich steht Sebastian Fitzek ja eher für die Art Spannung, die dem Leser (oder Hörer) die Fingernägel aufrollt und an den Nerven zerrt. Nicht unbedingt etwas für allzu zart Besaitete. Um die hardcore-Fitzek-Fans nicht auf eine falsche Fährte zu locken, gibt es daher gleich im Untertitel von "Der erste letzte Tag" den Hinweis:  „Kein Thriller“. Wem mehr nach Serienmördern und nicht immer subtilem Schrecken zumute ist, mag enttäuscht sein. Für alle anderen gilt: Fitzek beherrscht auch die leichte Tonart. Und ein bißchen Blut und Schmerzenslaute gibt es auch hier. Doch es überwiegen Heiterkeit, Selbsterkenntnis und eine zunehmend bittersüße Melancholie. Simon Jäger als Sprecher der Hörbuchversion schafft es dabei, den richtigen Ton zu finden - ohne Klamauk, ohne Übertreibung, aber mit dieser Leichtigkeit, die ja gerade eine Herausforderung ist. Er nähert sich den Charakteren mit liebevoller Distanz, gelegentlich einer Prise Ironie und schafft es, die angemessene Balance zw

Deutsch-kaukasische Gefühlswirren - Laudatio auf eine kaukasische Kuh

 Olga hat ein klares Ziel: Medizinstudium abschließen, den aus einer alteingesessenen Arztfamilie stammenden Studienkollegen Felix van Saan heiraten und somit auf den Höhen der gesellschaftlichen Akzeptanz angekommen, den Bruch mit ihrer Migrationsbiographie vollziehen. Dass Felix für seinen Promotionsabschluss ausgerechnet nach München geht, wo ihre Familie lebt, ist dabei allerdings ein wenig ärgerlich. Denn Olga hat vornehm verschwiegen, dass ihre soziale Herkunft sich vom großbürgerlichen Milieus der van Saans denn doch ein wenig unterscheidet.  Nicht nur, dass ihr Vater, der in der georgischen Heimat als Bergbauingenieur arbeitete, nun mangels Anerkennung seiner Abschlüsse nur als Hilfsarbeiter arbeiten kann, der Umgang ihrer Eltern mit der deutschen Sprache ist eher kreativ als korrekt. Olga ist das peinlich. Sie selbst ist nicht nur integriert, sie ist superintegriert, hat den bayrischen Vorlesewettbewerb gewonnen, sieht sich als "deutscher als ein Bamberger Hörnchen".