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Es werden Posts vom November, 2020 angezeigt.

Lebenstraum und Trauma - "Unter uns das Meer"

 Die große Freiheit auf 24 Quadratmetern, umgeben von Wind und Wellen – mit dem Kauf der Yacht Juliet hat sich der Betriebswirtschaftler Michael einen Lebenstraum erfüllt. Der Trump-Anhänger, der staatliche Einmischung ablehnt und autark sein will, kann sich an Bord des Schiffes den Wunsch von der totalen Unabhängigkeit erfüllen. Es ist auch ein Versuch, die vor dem Aus stehende Ehe zu retten. Dabei ist Juliet, Michaels Ehefrau und Ich-Erzählerin in Amity Gaiges Roman „Unter uns das Meer“,   nur höchst zögerlich aus dem Alltag in einem Vorortviertel im Ostküstenstaat Connecticut ausgestiegen.   Sie hat keinerlei Segelerfahrung und ist eigentlich bereits mit dem Alltag überfordert: Seit der Geburt der nun sieben und zweieinhalb Jahre alten Kinder leidet sie unter Depressionen, ihre Dissertation über Lyrik liegt brach, ein Kindheitstrauma und die Entfremdung zwischen Juliet und ihrer Mutter macht es nicht einfacher. Doch dann bricht die Familie doch in die Karibik auf – eigentlich entb

Der große kleine Unterschied - Frauenatlas zeigt Zustand von Rechten und Chancen

  Der klassische Atlas zeigt Ländergrenzen und geografische Besonderheiten, Meere und Gebirge, Ressourcen und Infrastruktur. Mit ihrem Frauenatlas nimmt Autorin Joni Seager, wie sie in der Einleitung schreibt, eine „feministische Neukartierung der Welt“ vor. Die aktuelle Ausgabe kann im Vergleich zum ersten Frauenatlas im Jahr 1987  einige Verbesserungen der Lebenssituation von Frauen vorweisen: Fast überall auf der Welt haben Frauen mittlerweile das volle Wahlrecht, die Alphabetisierung und Ausbildung von Frauen und Mädchen hat Fortschritte gemacht. Gleichzeitig gibt es andernorts Rückschritte: In Polen sorgt aktuell die Verschärfung des Abtreibungsrechts für heftige Proteste. Sexualisierte Gewalt in Kriegs- und Konfliktgebieten, Vergewaltigung als Waffe ist seit 1987 immer stärker in den Fokus gerückt, sei es in den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Syrien, wo Jesidinnen systematisch versklavt wurden. Islamismus und zunehmende kon

Von wegen sweet sixteen - Dieses ganze Leben

 Von wegen, mit 16 Jahren ist das Leben so herrlich. Paola jedenfalls ist mit sich und der Welt nicht im Reinen, dabei hat die Protagonistin in Raffaela Romangnolos Coming of Age-Roman "Dieses ganze Leben" zumindest materiell alles, was andere sich so wünschen. Die Unternehmertochter wohnt in einer Villa mit Pool, stets gibt es das neuest Tablet- und Handymodell. Aber abgesehen davon, dass die gefühlte emotionale Abwesenheit der Eltern die besten Voraussetzungen für Wohlstandsverwahrlosung bietet, kann Paola weder sich selbst akzeptieren, noch hat sie das Gefühl, von anderen jemals akzeptiert oder gar geliebt werden zu können: Zu groß, zu dickt, schlechter Teint, in der Schule gemobbt.  Das Mädchen, dass sich gerne in die Welt seiner Bücher flüchtet scheint auch zu Hause ganz im Schatten ihres jüngeren Bruders Ricchi zu stehen. Der ist schwerbehindert, seine Pflege, Therapie usw stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die Mutter scheint Paola nur mit Diät und Fitness-tipps zu b

Die DDR lebt - von Spitzeln, Verrätern und Spionen

 Mit "Die Republik" hat Maxim Voland eine buchstäblich explosive und temporeiche Dystopie  geschrieben, in der die Geschichte von Bundesrepublik und DDR völlig anders verlaufen ist als in unserer Realität. In dieser nicht allzu fernen Zukunft endete das Wendejahr 1989 nicht mit der deutschen Einigung. Statt dessen ist die DDR ein wirtschaftlich höchst erfolgreicher Staat, der seine Westgrenze zu Frankreich, Belgien usw hermetisch absichert und seine Bürger mit einer Vielzahl von Maßnahmen und Spitzeln überwacht. Von der Bundesrepublik hingegen ist nur "Deutschland-Berlin" geblieben, ein Ort der internationalen Spione, heruntergekommen und lediglich in der Mitte mit florierendem Nachtleben und einigem Wohlstand. Einen der Protagonisten, der desillusionierte Stasi-Oberst Gustav, hat jahrelang geholfen, diese Sicherheits- und Überwachungsmaschinerie in Gang zu halten. Offenbar mit stalinistischen Methoden, wie wiederholt angedeutet wird. Das Leben der Funktionäre in Wa

Von Exotik und globaler Angleichung - "Mit offenem Blick"

 In seinem Buch "Mit offenem Blick" hat Gerhard Schweizer zu einem Rundumschlag zum Thema unterwegs sein ausgeholt, einschließlich der Reflektion eigener Reiseerfahrungen in mehr als vier Jahrzehnten und dem Wandel des Reisens. Zugegeben, ich hatte zunächst eine andere Vorstellung zu dem Buch, erwartete eine Auseinandersetzung mit Kulturschocks und der Sensibilisierung für die anderen Sichtweisen in bereisten Regionen, gerade in völlig anderen Kulturkreisen. Dabei schilderte Schweizer allerdings zuerst seinen eigenen Blick, bei frühen Reisen etwa nach Nordafrika und Asien in einer Zeit, als die meisten Menschen in Deutschland allenfalls von einem Sommerurlaub an der Adria träumen konnten und Fernreisen für die Mehrheit der Menschen ein Ding der Unmöglichkeit war - entweder finanziell oder aus Zeitgründen. Da war ein Rucksackurlaub etwa nach Marokko noch etwas völlig Exotischen - und Exotik erwartete auch der junge Schweizer: Eben Menschen in traditioneller Kleidung, enge Kasb

Der Massai, der Kunsthändler und ein Rachefeldzug

 Die Romane von Jonas Jonasson haben in der Regel eine Gemeinsamkeit: Einen Protagonisten, der teils als skurriler Außenseiter, teils als Underdog gegen scheinbar übermächtige Gegner zu kämpfen hat und in der Manier eines Forrest Gump es irgendwie schafft, unbeschadet die aberwitzigsten und bedrohlichsten Situationen zu umschiffen. Gewürzt mit einer Prise augenzwinkerndem Humor, unerwarteten Begegnungen und scheinbarer Naivität steuert die Handlung nach verschiedenen Komplikationen doch noch auf ein Happy End zu und hinterlässt beim Leser ein Wohlfühlerlebnis. Die Kraft der Schwachen hat gesiegt gegen Gemeinheiten und Intrigen. Jonassons jüngstes Buch „Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte“ bildet da keine Ausnahme. Auch hier vereinen sich die Underdogs gegen einen fiesen Widersacher, bei dem es sich in diesem Fall   um den Kunsthändler Victor handelt.   Dessen Kunstverständnis hat ähnlich wie seine politischen Ansichten viel mit einem berühmten, wenn auch künstl

Guam Noir - Von Gangstern und Paten

 Mit "Die Plotter" hatte der koreanische Schriftstelle Un-Su Kim eine düster-brutale, aber auch fast schon philosophische Geschichte eines Profu-Killers geschrieben, Auch in "Heißes Blut" bleibt er dem Gangstermilieu treu und schildert Karrieren, Verteilungskämpfe und blutige Fehden in Busan und am Strandviertel Guam. Atmosphärisch dicht, sprachtlich kraftvoll erzählt Un-Su Kim die Geschichte des Gangsters Huisu, der in den 90-er Jahren die rechte Hand des koreanischen Paten Vater Son ist. Huisu gehört gewissermaßen zum mittleren Management des organisierten Verbrechens, ein Mann mit Ambitionen, aber auch mit einem Ehrgefühl als Gangster. Vaterlos aufgewachsen kennt er das Leben am Rand der Gesellschaft, seine große Liebe ist eine Barbesitzerin und ehemalige Prostituierte. Teilweise ist "Heißes Blut" wie eine koreanische Version des "Paten", mit Soldaten und Offizieren, mit Abgaben und korruptem Beamten, mit ungeschriebenen Gesetzen und Verhalten

Karin Slaughters Serienfusion: Grant-County- und Will-Trent-Reihe in "Die verstummte Frau" vereint

Von Frauke Kaberka Karin Slaughters neuester Thriller "Die verstummte Frau" führt einmal mehr in die Verbrechensszene Georgias, wo es Polizist Will Trent und seine Partnerin, die Rechtsmedizinerin Sara Linton, mit einer Serie von alten und neuen sadistischen Frauenmorden zu tun bekommen. Das Besondere: Slaughters Grant-County-Reihe fusioniert hier mit ihrer Will-Trent-Reihe  Südstaaten-Flair, missbrauchte gequälte Opfer und ein sadistischer Killer - für  Karin Slaughter probate Zutaten ihrer literarischen Menüs. Doch ihr neuer Thriller  "Die verstummte Frau"  bietet noch Einiges mehr: Die US-amerikanische  Autorin hat dieses Mal ihre beiden erfolgreichen Serien  - die Grant-County- und die Will-Trent-Reihe  - in einem Georgia-Roman zusammengeführt, denn beide Reihen sind in dem US-Bundesstaat angesiedelt. Und nicht nur das: Die Gegenwart verschmilzt mit der Vergangenheit, samt alten und neuen Personen, Beziehungen und  Ereignissen. Erwartungsgemäß stehen dabei die t

Reise durch das schwarze Europa - Afropäisch

 Gibt es so etwas wie eine gemeinsame schwarze europäische Identität in Europa? Der Autor und Moderator Johny Pitts wollte es herausfinden. Für sein Buch "Afropäisch" reiste er fünf Monate lang durch Europa, vom heimischen Großbritannien nach Frankreich, nach Deutschland und Schweden, Russland und Portugal. Er traf Künstler, Immigranten, Menschen aus Vorstädten und Slums wie auch aus den angesagten Adressen der jeweiligen Hauptstädte. Ein wenig war er wohl auch für sich selbst auf der Suche nach afropäischem Empowerment, nach gelebter schwarzer Solidarität. Dabei habe ich mich mehr als einmal beim Lesen gefragt, wieso er - gerade auf der Suche nach einer postkolonialen, postrassistischen Gesellschaft - letztlich alles wieder auf den Blick auf die Hautfarbe konzentriert. Denn einerseits: Schwarz sein oder mit einer Minderheiten- oder Einwanderererfahrung zu leben, macht nicht automatisch einen besseren, solidarischen oder politisch bewussteren Menschen. Zum anderen:Es gibt nic

Flucht - das Trauma der Entwurzelung

 Schon das Titelbild von Andreas Kosserts Buch "Flucht" zeigt, wie leicht sich der Leser bei der Einschätzung irren kann und wie allgemeingültig  die Geschichte von Flüchtlingen ist: Der kleine Junge mit den kurzen Hosen, der auf zusammengeschnürten Gepäckstücken und Säcken hockt, ist nicht etwa ein Kind aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien im Jahr 1945, sondern ein junger Flüchtling "aus osteuropäischen Regionen" im Jahr 1949 - vielleicht aus der Westukraine oder der Wilnaer Gegend vor der Umsiedlung in die einstigen deutschen Ostgebiete, vielleicht ein Kind von "Displaced Persons", die nach dem Krieg in Deutschland feststeckten und entweder in ihre Heimatländer repatriiert wurden oder eine neue Zukunft in einem anderen Land suchten. Gemeinsam war und ist ihne: Sie sind entwurzelt, führen ein Leben im Wartestand, von den jeweils "Hiesigen", den Beheimateten oft misstrauisch beäugt, abgelehnt, angefeindet. "Eine Menschheitsgeschichte"