Der große kleine Unterschied - Frauenatlas zeigt Zustand von Rechten und Chancen
Der klassische Atlas zeigt Ländergrenzen und geografische Besonderheiten, Meere und Gebirge, Ressourcen und Infrastruktur. Mit ihrem Frauenatlas nimmt Autorin Joni Seager, wie sie in der Einleitung schreibt, eine „feministische Neukartierung der Welt“ vor. Die aktuelle Ausgabe kann im Vergleich zum ersten Frauenatlas im Jahr 1987 einige Verbesserungen der Lebenssituation von Frauen vorweisen: Fast überall auf der Welt haben Frauen mittlerweile das volle Wahlrecht, die Alphabetisierung und Ausbildung von Frauen und Mädchen hat Fortschritte gemacht.
Gleichzeitig gibt es andernorts Rückschritte: In Polen sorgt
aktuell die Verschärfung des Abtreibungsrechts für heftige Proteste.
Sexualisierte Gewalt in Kriegs- und Konfliktgebieten, Vergewaltigung als Waffe
ist seit 1987 immer stärker in den Fokus gerückt, sei es in den Bürgerkriegen
im ehemaligen Jugoslawien, in der Demokratischen Republik Kongo oder in Syrien,
wo Jesidinnen systematisch versklavt wurden. Islamismus und zunehmende konservative
Strömungen haben in zahlreichen Ländern Fortschritte in den
Lebenswirklichkeiten und Freiräumen von Frauen wieder zurückgedrängt.
Auf dem Papier ist die Diskriminierung von Frauen
mittlerweile fast überall verboten. Anhaltende Ungleichheiten, vom Einkommen
bis zu Erbrecht, von sexueller Selbstbestimmung bis zu Müttersterblichkeit, vor
Arbeitsteilung bis zu Armutsrisiken werden im Atlas der Frauen auf 164
Infografiken und Karten aufgelistet. Seager ist Geografin und Professorin für
Global Studies an der Bentley-Universität Boston.
Für vergleichsweise privilegierte Frauen in Westeuropa und
Nordamerika ist das Kartenmaterial auch eine Erinnerung daran, dass es für
viele Frauen auf der Welt um die Frauenquote in Aufsichtsräten und
DAX-Vorständen geht: In 50 Ländern wird festgelegt, wie sich Frauen aus
religiösen Gründen kleiden sollen, im mehr als 35 Ländern haben Frauen nicht
dieselben Erbrechte wie Männer. Und bleibe es beim derzeitigen Tempo der
Fortschritte, werde der Gender-Gap, der Unterschied zwischen den Geschlechtern,
noch 217 Jahre bestehen bleiben.
Wie tief die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen von
Männern und Frauen ist, hat auch mit sozialer und geografischer Herkunft zu
tun. Es dürfte wenig überraschen, dass in den Ländern des globalen Südens auch
die Situation der Frauen besonders schwierigiste ist. So ist der Anteil der
Müttersterblichkeit in den Ländern Afrikas südlich der Sahara am höchsten,
während sie in Australien, Kanada und den meisten Ländern Europas bei weniger
als 10 pro 100 000 Lebendgeburten liegt. Auch der Zugang zu Verhütungsmitteln
ist in vielen afrikanischen Ländern weitaus niedriger. Hingegen war 2012 die
Zahl der Brustkrebsfälle doppelt so hoch als in Afrika – wobei aus der Grafik
nicht hervorgeht, wie weit das mit dem Zugang zu ärztlicher Versorgung und
Diagnose zu tun hat.
Ausführlich geht der Frauenatlas auf häusliche Gewalt,
sexualisierte Gewalt und fundamentalistische Kriege gegen Frauen etwa durch die
Terrormilizen Islamischer Staat und Boko Haram ein. Auch Bildungschancen,
Berufstätigkeit Armutsrisiken und finanzielle Entscheidungsspielräume werden weltweit verglichen. Datengrundlagen sind
dabei teils UN-Untersuchungen, teils nationale Statistiken und
wissenschaftliche Untersuchungen.
Joni Seager
Der Frauen Atlas. Ungleichheit verstehen
Carl Hanser Verlag 2020
208 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-446-26829-6
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