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Es werden Posts vom März, 2022 angezeigt.

Freunde und Helfer oder Problemfälle?

 Man muss kein Woke-Aktivist sein, um mitunter beim Gedanken an die Polizei ein mulmiges Gefühl zu bekommen - zu viele Skandale, zu viele Vorkommnnisse. Ob Chatgruppen mit rassistischen, homophoben oder frauenfeindichen Inhalten, ob Berichte über überzogene Gewalt und willkürliche Kontrollen gerade von Angehörigen von Minderheiten.  Problematische Einzelfälle, heißt es immer wieder, wenn die Polizei irgendwo in Deutschland in die Schlagzeilen gerät. Doch mittlerweile haben sich so viele dieser "Einzelfälle" zusammenaddiert, dass die Frage aufkommt: Hat die Polizei ein Problem?  Mit ihrem Buch "Die Polizei: Freunde, Helfer, Staatsgewalt" haben der Kriminologe und Polizeiforscher Tobias Singelnstein und der Rechtsanwalt Benjamin Derin sowohl das Selbstbild und die Geschichte der Polizei wie auch gesellschaftlichen Wandel beim Blick auf die Polizei untersucht. Dabei machen sie auch klar: Es gibt nicht "DIE" Polizei, wie jeder andere Berufsstand gehen Polizist

Leben im Ausnahmezustand - Kangal

 Ein Leben im Ausnahmezustand, mit all seinen Folgen für zwischenmenschliche Beziehungen, steht im Mittelpunkt von "Kangal" von Anna Yeliz  Schentke. Für Dilek und ihren Freund Tekin, ein junges Paar aus Istanbul. ist mit dem Ausnahmezustand in der Türkei plötzlich alles anders. Nicht nur, dass alte Treffpunkte in Cafés und Bars plötzlich immer weniger werden, auch das Misstrauen und die Angst angesichts von Verhaftungen, Terrorgesetzen und Denunziationen  zerstört den Zusammenhalt in der Clique der jungen Leute, die die Entwicklung in ihrer Heimat kritisch sehen. Dilek hat sich unter ihrem Pseudonym Kangal in sozialen Medien geäußert, selbst enge Freunde wissen nicht, wer sich hinter diesem Namen verbirgt. Doch nun ist die Lebensgefährtin einer Freundin verhaftet worden. Sind die Sicherheitsbehörden ihr schon auf der Spur? steigert sie sich in etwas hinein? Zu Beginn des Buches ist Dilek am Flughafen, bangt an der Passkontrolle, ob man sie ausreisen lässt nach Frankfurt, wo

Der lange Schatten des Kampf gegen den Terror

 David Lagercrantz ist ein Autorenname, der für exzellente schwedische Kriminalliteratur steht - schließlich hat er nach dem Tod von Stieg Larssen die "Millenium"-Reihe um die geniale Hackerin Lisbeth Salander vollendet. Mit "Der Mann aus dem Schatten" hat Lagercrantz nun den Auftakt einer neuen, ganz eigenen Reihe aufgelegt, der Spannung und politische brisantes Geschehen miteinander verbindet. Einen ziemlich genialen, wenn auch komplizierten Protagonisten hat auch diese geplante Triologie. Hans Rekke, Philosoph, Reederssohn aus reichem Haus, ehemals musikalische Wunderkind und, so weiß die Stockholmer Polizei, gilt als Verhörspezialist. Daher macht sich eine kleine Ermittlergruppe auf in Rekkes Villa im Nobelviertel, unter ihnen auch Micaela Vargas, die eigentlich Streifenpolizistin ist. Dass sie in die Kripo-Ermittlungen nach dem Tod eines Schiedsrichters eingebunden wird, hat vor allem einen Grund: Sie wuchs als Tochter chilenischer Einwanderer im gleichen Vorst

Aus aller Welt und eher alten Zeiten - Bloßes Leben

 Selbstkritische Journalisten wissen: Ihr Produkt hat in der Regel eine kurze Verweilzeit. Früher wurde in der Zeitung vom Vortag Gemüse eingewickelt, heute sind online-Texte mitunter schon nach Minuten überholt, jedenfalls in breaking news Situationen.  Und doch gibt es immer wieder, gerade in der literarischen Reportage, Texte, die bleiben und ihren eigenen Wert haben. Man denke nur an Altmeister Kisch.  Doch gilt das auch für die Reportagesammlung "Bloßes Leben"  von Andreas Altmann? Ich fürchte, nein.  Einige der Texte scheinen schon mehrere Jahrzehnte alt zu sein. Das nimmt den Ortsbeschreiibungen nicht ihre Farbigkeit, es zeigt sich jedoch ein Blickwinkel, der deutlich aus der Zeit gefallen ist. Boshaft formuliert: Ein alter weißer Mann erzählt. Seinerzeit war Altmann zu Zielen unterwegs, die für die meisten Menschen äußerst exotisch und eher unerreichbar waren. Mexiko, der Himalaya, gar die Nubaberge während des sudanesischen Bürgerkriegs. Da konnte die Selbstdarstellu

Überwachungsstaat und Virus

 Wer Bücher mit happy end braucht, sollte "Wuhan", den Roman des im Exil lebenden chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu nicht lesen. Wie kann es auch ein happy end geben, wenn Überwachungsstaat, Sicherheitssystem und obendrein die Corona-Pandemie in ihrer ersten dramatischen Phase in der Provinz Wuhan im Mittelpunkt stehen? Als Dokumentarroman wird das Buch eingeordnet, dazu tragen auch Zitate aus sozialen Medien und Internetforen bei, die zwar fiktiv sein mögen, mit ziemlicher Sicherheit aber ähnliche Entsprechungen in der Wirklichkeit haben. Protagonist ist der Wissenschaftler Ai Ding, der als Gastwissenschaftler in Deutschland lebt, als in seiner Heimatstadt Wuhan die ersten Fälle der Infektionen mit dem neuen Virus auftreten. Dennoch fliegt er in die Heimat, um das chinesische Neujahrsfest mit Frau und Tochter zu verbringen. Allein, bereits die Erwähnung seines Reiseziels und Geburtsort reicht aus, um ihn gewissermaßen zum Aussätzigen zu machen. Einmal in Beijing gelande

Versagen der Behörden und seine langen Folgen - der 13. Mann

  Die Dunkelziffer ist groß, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. In Schätzungen ist von jedem fünften Mädchen und jedem 13. Jungen die Rede. Das erklärt auch den Titel des Justizkrimis "Der 13. Mann" von  Florian Schwiecker und Michael Tsokos, in denen es um einen Überlebenden von Missbrauch geht. Fiktiv, aber sehr realistisch ist der Roman, der von einem tatsächlichen Skandal inspiriert wurde: Berliner Kinder aus schwierigen Verhältnissen wurden an pädophile Männe als Pflegeväter vermittelt. Dass es zu Übergriffen und Vergewaltigungen kommen würde, war eigentlich vorprogrammiert. In "Der 13. Mann" trägt der  Wissenschaftler, der hinter dem Programm stand, einen anderen Namen, doch es macht fassungslos, dass die Geschehnisse des Romans auf einem tatsächlichen Vorgang beruht. Im Buch geht Rechtsanwalt Rocco Eberhardt einem Vermisstenfall nach. Timo Krampe wollte mit seinem Pflegebruder und Freund Jörg die Geschichte ihres Missbrauchs als Pfle

Von Freundschaft und Loyalität - Ein Leben lang

Wo endet Freundschaft und wo beginnt Nibelungentreue? Kann nicht sein, was nicht sein darf? Diese Fragen kommen beim Lesen von Christoph Poschenrieders Roman "Ein Leben lang" auf, der von einem wahren Fall inspiriert wurde. Eine Clique von Freunden wird auf die Probe gestellt, als einer von ihnen als Mörder seines Erbonkels verhaftet wird. Im folgenden Prozess stehen sie geradezu demonstrativ zu ihm, organisieren Pressekonferenzen, um seine Unschuld zu beteuern. Verurteilt wird er trotzdem: Lebenslang, mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das heißt: Entlassung nach 15 Jahren ist nicht möglich.  Eine Journalistin wendet sich 15 Jahre später noch einmal an den Freudeskreis, plant ein Buch, das die Linien von damals bis heute ziehen soll. In dem Buch tritt sie nur durch Randnotizen auf, statt dessen sind es die Monologe und Erinnerungen der Gesprächspartner, die erhellend bis entlarvend sind und Fragen aufwerfen: Wo wäre die Freundschaft heute, hätte es nicht den

Suche nach Herkunft - "Auf der Straße heißen wir anders"

 Migration, Herkunft, Identität, der Schatten des Völkermords und eine Vater-Tochter-Geschichte: Laura Cwiertnia packt viel in ihren Roman "Auf der Straße heißen wir anders". Und im Gegensatz zu manchen Romanen, die angesichts einer Vielzahl von Themen überfrachtet wirken, ist das hier sehr gelungen, ja mehr noch: trotz schwieriger und tragischer Themen schafft es die Autorin, einen leichten Ton zu bewahren, liebevoll, mitunter ironisch-distanziert, mit neugierigem und offenen Blick. In der von migrantischer Einwohnerschaft geprägten Betonwüste von Bremen-Nord war Karlotta (Karl-Otto - deutscher gehts kaum) in ihrer Schulzeit eher eine Außenseiterin. Zu alman, zu deutsch, in Schulklassen, in denen die Mehrheit zu Hause türkisch oder arabisch, russisch oder polnisch spricht. Das Dissen von Minderheiten  ist keine biodeutsche Spezialität. Und Karlotta, Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Armeniers, spricht nach der frühen Trennung ihrer Eltern noch nicht einmal

Die Auswüchse der social-media-Sucht - Die Kinder sind Könige

 Auf den ersten Blick ist Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige" ein Kriminalroman. Schließlich ist ein Kind, ein kleines Mädchen, verschwunden - vermutlich entführt.  Die Pariser Polizei ermittelt und insbesondere die Polizeibeamtin Clara befasst sich mit mutmaßlichen Hintergründen und untersucht die Familiensituation. Und dabei wandelt sich der in der Gegenwart spielende Roman sehr schnell zu einem Gesellschaftsporträt und de Jahrmarkt der Eitelkeiten im 21. Jahrhundert. Denn Kimmy, das verschwundene Mädchen, ist ein social media Star, bereits im Vorschulalter wie ihr wenige Jahre älterer Bruder Influencerin. Beide Eltern haben ihren jeweiligen Beruf aufgegeben, um sich ganz der Karriere ihrer Kinder zu widmen. Mutter Melanie, die als schüchterner Teenager vergeblich vom Ruhm in Reality-Formaten träumte, ist über die Kanäle ihrer Kinder nun selbst zu einer Berühmtheit mit Fangemeinde geworden. Ihre Anhänger im virtuellen Raum sind für sie wichtiger als die meiste

Aussteigergeschichte auf den Galapagos-Inseln - Die dritte Quelle

 Mit "Die dritte Quelle" hat Werner Köhler wohl das Gegenteil einer Coming of Age-Geschichte geschrieben. Denn sein Protagonist Harald Steen ist mit seinen 64 Jahren zwar noch nicht am Ende seines Lebens angelangt, steht aber imerhin schon außerhalb des Berufslebens. Doch dann krempelt der pensionierte Hamburger Bankangestellte sein Leben noch einmal völlig um, wird buchstäblich zum Aussteiger und beginnt auf der kleinen Insel Floreana auf dem Galapagos Archipel nicht nur ein ganz neues Leben, er suchtt auch nach den Wurzeln seiner Familie. Das Buch beginnt vielversprechend, die Reise auf dem Containerschiff, der einsame Mann, der sein altes Leben hinter sich lässt, der Kulturschock auf der Insel, die einsamen Exkursionen in die Nebelwälder zu den Piratenhöhlen, wo sich Steen noch einmal neu erfinden will. Leiten lässt er sich von einem Buch über die einstigen deutschen Auswandererfamilien, deren Nachkommen teilweise immer noch auf Floreana leben. Doch was die sogenannte Gala

Zwischen Botschaftsempfängen und Gefängniszellen - Die Diplomatin

 Diplomaten des Auswärtigen Amtes unterscheiden zwischen Standorten der Kategorie A, B, C, wobei Plätze wie London, New Yorrk, Paris, Washington, Brüssel oder Rom einerseits wegen ihrer Bedeutung, andererseits wegen der dortigen Lebensqualität der A-Klasse angehören. Fred, die Titelheldin von Lucy Frickes Roman "Die Diplomatin", hatte mit ihrem letzten Einsatzort Bagdad eindeutig die C-Karte gezogen, dafür ist sie nun Botschafterin in Montevideo - politisch bedeutungslos, ein ruhiger Posten, die größte Herausforderung ist der alljährliche Botschaftsempfang am 3. Oktober: Können Grillwürstchen deutscher Tradition besorgt werden, die unter der diplomatischen Community so beliebt sind? Und wer soll die Nationalhymne spielen - möglichst keine Blaskapelle emigrierter Altnazis! Kurzum, es könnte nach Jahren im Krisenmodus und in gepanzerten Fahrzeugen eine eher entspannte Phase im Leben der Karrierediplomatin werden, die herrlich undipöomatisch und leicht sarkatisch als Ich-Erzähle