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Es werden Posts vom Februar, 2021 angezeigt.

Sechs Generationen von Versklavung bis Emanzipation - "Heimkehren"

 Wenn von schwarzer Geschichte die Rede ist oder in der Literatur schwarze Perspektiven abgebildet sind, dann sind sie im europäischen oder nordamerikanischen Literaturbetrieb meist ziemlich einseitig - nämlich afroamerikanisch, vielleicht afrobritisch, geprägt von Rassismuserfahrungen und Minderheitenleben. Das kommt in Yaa Gyasis buchstäblich epochalen Roman "Heimkehren" nicht zu kurz. Doch Gyasi, in Ghana geboren, in den USA aufgewachsen, setzt das afrikanische Element dazu - nicht verklärend, nicht überhöht, sondern unsentimental und die Geschichte buchstäblich vervollständigend.  Über sechs Generationen hinweg verfolgt sie die Geschichte einer Familie an der Goldküste im heutigen Ghana, beginnend mit zwei Schwestern, die sich nie kennengelernt haben: die eine wird Cape Castle als Sklavin nach Nordamerika verschleppt, die andere wird zur Zweitfrau eines britischen Offiziers, letztlich eine Begünstigte des Sklavenhandels. Cape Castle ist für afroamerikanische Touristen auf

Schwer geclaast - Der Weltreporter

 Journalistennachwuchs wird schon ganz zu Beginn  eingeschärft: Wenn eine Geschichte zu schön ist, um wahr zu sein,  dann stimmt sie meistens auch nicht. Also Vorsicht, sorgfältig recherchieren und Fakten checken. Denn wer auf einen Fake reinfällt oder gar eine Fälschung verbreitet,  macht sich nicht nur selber zum Gespött, sondern gibt denen Aufwind, die auch heute wieder laut und oft "Lügenpresse" schreien. Dass auch gestandene Profis dem Sog der zu schönen als wahrscheinlichen Geschichte erliegen können, das hat das Beispiel des "Stern" und der gefälschten Hitler-Tagebücher ebenso bewiesen wie zuletzt der große Sündenfall beim "Spiegel" mit dem als Edelfeder gehypten Claas Relotius. Der schrieb zwar schön, gab aber leider Phantasiewerke als echte Reportagen aus. Seitdem kennt man in der Branche den Begriff "das ist wohl eher geclaast", wenn eine Geschichte mal wieder zu schön klingt, um wahr zu sein. Dabei hat doch schon Egon Erwin Kisch, der

Vermisstenfall in der Taiga - "Das Verschwinden der Erde"

 Es ist nicht ganz einfach Julia Philipps´ Romandebüt "Das Verschwinden der Erde" gattungstechnisch einzusortieren: Literarischer Thriller, wie der Klappentext verspricht? Oder doch eher ein Episodenroman, der den Blick auf das Leben von Frauen im Fernen Osten Russlands lenkt, eine Zustandsbeschreibung der postsowjetischen Gesellschaft, ausgerechnet von einer Amerikanerin, die zuvor ein bißchen für die Moscow Times bloggte? Der Titel erinnert jedenfalls an ein Lied von Wladimir Wyssotzki, dem Sänger und Schauspieler mit der markant-rauen Stimme und poetischen Texten, in denen es mal um Krieg, mal um Berge und Wildnis ging. Wenn dieses Buch ein Thriller ist, dann keiner der vordergründigen Sorte. Ein Kriminalfall bildet gewissermaßen die Klammer der Handlung, die sich über ein Jahr hinweg erstreckt, mit jedem für jeweils einen Monat gewidmeten Kapitel, das eine Frauenfigur ins Zentrum rückt. Manche Nebenfigur oder in einem Satz erwähnte könnte in einem anderen Kapitel im Mitte

Zwische Polarnacht und ewigem Eis - "Eingefroren am Nordpol"

 Ein Jahr in der Arktis, mit einer Eisscholle driftend, eine Forschungsstation auf dem Eis – kein Zweifel, die „Mosaic“-Expedition an Bord des Forschungseisbrechers Polarstern war nicht nur eine Gelegenheit, wissenschaftliche Daten aus der unzugänglichen und extremen Region um den Nordpol zu erhalten. Sie war auch ein großes Abenteuer, bei aller Vorbereitung, Sicherheitsmaßnahmen und –technik. Die meisten Menschen können nur davon träumen, in ihrem Leben einmal so etwas zu erleben. Expeditionsleiter Markus Rex, der schon auf zahlreichen Forschungsreisen war, nimmt Leser mit dem nur wenige Wochen nach der Rückkehr veröffentlichtem Logbuch von der Polarstern mit auf die Reise ins – wie sich zeigt – gar nicht mehr so ewige Eis. Dabei tritt er auch in die Fußstapfen der ersten Entdecker und Reisenden, allen voran Fridtjof Nansen. Rex leitet die Atmosphärenforschung des Alfred Wegener-Instituts und ist Professor für Atmosphärenphysik an der Universität Potsdam. Mit „Eingefroren am Nordpol

Entschleunigte Coming of age-Story - Big Sky Country

 Von den Getreidefeldern und Milchfarmen des Mittleren Westens in die grandiose Bergwelt Montanas führt der Weg des Farmersohns August in Callan Winks Roman "Big Sky Country". Es handelt sich um eine entschleunigte, ruhig geschilderte Coming of Age-Geschichte aus dem Herzland der USA, einer Welt, die sehr weit entfernt ist vom Tempo der Metropolen an Ost- und Westküste. Das Leben, in das August hineingeboren wurde, ist einfach und geprägt von der Stille zwischen seinen Eltern.  Der Vater, ein einfacher, ruhiger Mann, dem es schwer fällt, über Gefühle zu sprechen, der eine unsentimentale bis harte Einstellung zum Leben hat - Augusts erster Job besteht darin, die in der Scheune lebenden Katzen zu töten, mit den auf ein Brett genagelten Schwänzen als Beweismaterial für die "Gehaltsrechnung". Die Mutter, die aus einer wohlhabenderen Farmersfamilie stammt und von Bildung träumt, ihr Studium wieder aufnehmen will und im alten Wohnhaus ihrer Familie ein getrenntes Leben fü

Kälte und Poesie - Das Gewicht von Schnee

 Mein Land ist kein Land, es ist der Winter, hat ein kanadischer Dichter einmal geschrieben, und diese Zeilen  gingen beim Lesen von Christian Guay-Poliquins Buch "Das Gewicht von Schnee" wie ein Echo durch meinen Kopf. Denn in diesem ungewöhnlichen Roman voll spröder Poesie spielt der Winter und das Überleben zwischen Schnee- und Eismassen eine Hauptrolle. Schon bei den zunächst verwirrenden Kapitelüberschriften - das Buch beginnt mit "38" - kein Fehler bei der Gliederung, sondern die aktuelle Schneehöhe, wie sich nach und nach herausstellt. Und auch wenn der Autor viele eindrucksvolle Wort und Formulierungen findet, um diesen gewaltigen Winter immer wieder neu zu beschreiben, ist "Das Gewicht von Schnee" kein Naturroman, sondern ein distopisches Kammerspiel voll zunehmender Paranoia. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist in sein Heimatdorf zurückgekehrt, um noch einmal seinen Vater zu sehen. Doch auf dem Weg dahin hatte er einen schweren Unfall, beide

Von Rasse, Klasse und Frauenleben - Mädchen, Frau, etc.

 Das Bücherjahr hat zwar erst angefangen, mit Bernardine Evaristos Roman "Mädchen, Frau etc" habe ich aber jetzt schon ein erstes Highlight erlesen. In zwölf Frauenportraits bringt die britische  Schriftstellerin Lebenswirklichkeiten überwiegend schwarzer Frauen (ebenfalls nur überwiegend, es gibt auch eine nicht-binäre Figur) und schafft es dabei, trotzdem einen roten Faden im Erzählfluss und einer übergreifenden Handlung zu halten. Denn teils sind die Frauen durch Freundschaft oder Verwandtschaft miteinander verbunden, teils finden sie sich am selben Ort wieder, bei der Premiere der "Amazonen von Dahomey" im National Theatre.  Regisseurin und Autorin des Stücks ist Amma, die auch die Protagonistin des ersten Kapitels ist: Schwarz und lesbisch, sah sie über lange Jahre ihre Rolle vor allem im Protest gegen das Establishment, mit der Inszenierung im Nation Theatre ist sie dort selbst angekommen, so gerne sie sich auch nonkonformistisch-bohemehaft gibt. Ein weiter We

Der Besuch des alten Herrn - Rache in einem sterbenden Ort

 "Bitte keine Vergangenheitsbewältigung, wir sind Österreicher!", so könnte man, frei nach George Mikes,  einen Grundtenor in David Schalkos Roman "Bad Regina" beschreiben. Denn mit seinen Landsleuten und einem dumpfbraunen Grundton der  österreichischen Seele geht der Autor bei allen grotesk-satirischen Elementen kritisch ins Gericht. Da sind seine Protagonisten in dem sterbenden Ort Bad Regina durchaus einsichtig. So nennt einer Einwohner von Bad Regina seine Landsleute "Verdunkelungsweltmeister"- "Er sagte, dass in Österreich die Aufklärung nie stattgefunden habe. Vorschriftshörigkeit, Mauscheln, und Feigheit seien in seiner DNA verankert." Schmeichelhaft klingt anders. Dass die Krise der Gegenwart tatsächlich mit charakterlichem Versagen der Einheimischen während des Nationalsozialismus zusammenhängt erschließt sich allerdings erst ganz zum Schluss. Bis dahin muss der Leser, ebenso wie Hauptfigur Othmar, rätseln, was hinter dem Verfall von Ba