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Es werden Posts vom August, 2023 angezeigt.

Mutterliebe, Rache und Rassismus im Boston der 60-er Jahre

  Dunkel, sehr dunkel ist Dennis Lehanes Roman "Sekunden der Gnade" - und das hat nicht nur mit dem hässlichen Problem Rassismus zu tun,  der in diesem Boston Noir eine Rolle spielt. Ein wenig verarbeitete Lehane dem Vorwort zufolge auch eigene Schreckenserfahrungen seiner Kindheit, als er unversehens Hass und Gewaltbereitschaft in den Protesten gegen die Aufhebung der Rassensegregation an Schulen in Boston erlebte. Der Streit um die Pläne, schwarze Kinder künftig in Bussen an Schulen in weiße Wohnviertel zu bringen und umgekehrt, ist auch in dem Roman der Hintergrund des Konfliktes, der immer gewalttätiger zu werden droht. Auch Mary Pat Fennessy ist wütend, dass ihre Tochter Jules künftig auf eine Schule im schwarzen Nachbarviertel gehen soll, ist bereit zu protestieren. Und dem Organisator der Proteste erteilt man ohnehin keine Absage. Offiziell geht es vielleicht um die Verteidigung irischer Identität, aber eigentlich um organisierte Kriminalität. Wenn Mary Pat und ihre To

Road-Trip an die See - ein Mädchen sucht einen Vater

 Mit "Paradise Garden" hat Elena Fischer ein Buch geschrieben, das buchstäblich eine Wucht ist - und Billie, die 14-jährige Protagonistin, erinnert mich an einen weiblichen Huckleberry Finn des 21. Jahrhunderts, unterwegs nicht auf einem Floß auf dem Missisippi, sondern im Auto ihrer plötzlich verstorbenen Mutter unterwegs an die Nordsee, auf der Suche nach dem unbekannten Vater. Es ist eine ganz besondere und anrührende Coming of Age-Geschichte dieses Mädchens, das Zartheit und Schnoddrigkeit verbindet, das unsentimental ein Leben im Prekariat und den Zusammenhalt mit anderen Abgeängten in einem Wohnblock kurz vor der Autobahn. Das Klauen hat sie ausgerechnet von der borgeouisen Freundin gelernt, Billies Mutter wäre entsetzt gewesen, aber auf ihrem Weg erweist sich das Gelernte dann doch als ganz praktisch. Auch Mutter-Tochter Konflikte und zerstörte Träume sind Themen dieses Buches, das aus der Perspektive Billies geschrieben wird. Dabei trifft die Autorin den richtigen Ton

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

 Disclaimer: Ich war vermutlich voreingenommen, als ich "Joe Country" von Mick Herron las. Denn ich fand bereits die Vorgängerromane großartig, habe den Autor als intelligent, spannend und mit diesem sehr britisch-selbstironischen schwarzen Humor erlebt - da gehe ich von vornherein mit großem Wohlwollen an jedes neue Buch des Autors heran. Wobei er dadurch ja auch hohe Erwartungen zu erfüllen hat. Und gleich vorrneweg, ich bin auch diesmal nicht enttäuscht worden.  Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, Herron hat die Angewohnheit, sich seiner Figuren öfter mal gewaltsam zu entledigen. Als Leser ist man daher gut beraten, keine der Figuren zu sehr ins Herz zu schließen, auch wenn die Spionage-Pechvögel aus dem Slough House dazu einladen können. Die ungeliebten Versager des MI5 haben diesmal nicht nur mit den Ätz-Kommentaren ihres Chefs Jackson Lamb zurechtzukommen, sondern auch mit einer Rettungsmission, die sie ins tiefste Schneegestöber in Wales führt. Dabei spielen auch

Der Sheriff von Raufarhövn und der alte Spion

  Vor drei Jahren hat Joachim B. Schmidt mit seiner Romanfigur "Kalmann" und dem gleichnamigen Buch einen ganz besonderen Protagonisten geschaffen - und irgendwie auch ein Plädoyer für Akzeptanz und Inklusion. Denn Kalmann Odinsson, der s elbst ernannte Sheriff von Raufarhövn, hat zwar immer wieder mal "Watte im Kopf", ist aber voll in das Dörfchen am Polarkreis integriert und selbstverständlicher Teil der Dorfgesellschaft. Nur alleine mit dem Boot unterwegs sein und Haie jagen, das darf er nicht mehr. Doch der reine Tor aus Island hat den Kopf voll mit ganz anderem Kummer, um die Jagd groß zu vermissen im Nachfolgeband "Kalmann und der schlafende Berg": Odin, sein geliebter Großvater ist gestorben, und auch wenn er am Ende schwer dement war und Kalmann nicht mehr erkannte, trauert der tief um den geliebten Opa, der am Ende damit überraschte, dass er auf einmal Russisch sprach. Vielleicht ist es also eine gute Sache, dass Kalmanns leiblicher Vater, zu dem

Überlegungen zu Verfassungsschutz und bürgerlichen Freiheiten

 Spätestens seit der Causa Hans Georg-Maaßen dürften auch viele Menschen, die in der Vergangenheit wenig über die Arbeit des Verfassungsschutzes und die Auswirkungen auf sich selbst nachgedacht hatten, ins Grübeln geraten sein: Der Chef des Dienstes, der verantwortlich ist für den Schutz der Verfassung und damit für das, was als freiheitlich-demokratische Grundordnung bezeichnet wird, rückte in seinen öffentlichen Äußerungen gefährlich nahe an jene heran, bei denen viele einen deutlichen Gegensatz zu den Werten sehen, die eben diese Grundordnung ausmachen. Der Chef des Verfassungsschutzes konnte keine "Hetzjagden auf Ausländer" nach einer Demo unter Teilnahme auch Rechtsextremer in Chemnitz sehen. Pressebilder, aber auch Äußerungen von Polizisten im Einsatz vor Ort, sprachen eine völlig andere Sprache.. In Ronen Steinkes Buch "Verfassungsschutz" geht es einerseits um den Fall Maaßen, der mit den Äußerungen zu den Vorkommnissen in Chemnitz ja noch lange nicht erledig

Blick eines Schriftstellers auf den Bataclan-Prozess

Emmanuel Carrere hat etwas gemacht, was eigentlich gar nicht so ungewöhnlich ist, sondern für Gerichtsreporter eigentlich selbstverständlich ist - einen großen Prozess von Anfang bis Ende zu begleiten, Tag für Tag, sowohl an den Tagen spektakulärer Zeugenaussagen und der wichtigen Plädoyers, als auch in den Phasen, wo Prozessformalitäten eher für journalistische Durststrecken sorgen. Nun ist Carrere allerdings nicht Journalist, sondern Schriftsteller, der für die Zeitung "L´Observateur" einmal wöchentlich eine Kolumne vom Prozess um die islamistischen Terroranschläge vom 13. November 2015 unter anderem im Batclan geschrieben hat - auch das ein Unterschied zu Gerichtreportern, die tagesaktuell und schnell, ohne die Möglichkeit längerer Reflektion liefern müssen.  Für seine Gerichtsreportage, die wiederum ein Ausbau dieser Kolumnen ist, geht der Autor insofern anders vor als die Nachrichtenprofis der Gerichtsberichterstattung, die die Pflicht haben, unvoreingenommen zu berichte

Fluch der Schönheit?

 Kann zu viel Schönheit unglücklich machen? Fast  hat man den Eindruck in Meir Shalevs Roman "Erzähls nicht deinem Bruder" über die lange Nacht der Gespräche bei viel Feigenschnaps auf dem Balkon eines Hotelzimmers in Tel Aviv. Diese Brudernacht ist eine Tradition bei Boas, dem stämmigen  Israeli, und seinem Bruder Itamar, der als ausnehmend schöner Mann schon immer viel Beachtung fand und im Gegensatz zu seinem durchsetzungsfähigen Bruder in allem, auch in Beziehungen, eher zurückhaltend ist. Eigentlich hat er, der so ziemlich jede heterosexuelle Frau haben könnte, es in der Liebe schwer - die einzige Frau, an der ihm jemals etwas lag, hat die Beziehung beendet, während Boas es mit der ehelichen Treue, wie schon der Vater der Brüder, nicht so genau zu nehmen scheint. Itamar lebt schon lange in den USA. Konflikte und Streit hielt er schon als Kind nicht gut aus. Für ein Leben in Israel mit seiner eher meinungsfreudigen Gesellschaft ist der sensible und extrem kurzsichtige Fit

Homo Sovieticus, die Tscheka und das Fleisch

 Eine gefährliche und von Gewalt ganz unterschiedlicher Seiten erschütterte Stadt war das frühsowjetische Kiew schon in Andrej Kurkows ersten Roman der Reihe um den Milizionär Samson und die Statistikerin Nadeschda  nicht. In "Samson und das gestohlene Herz" hat sich das nicht geändert, ganz im Gegenteil. Mit einem Tschekisten, der in die Reihen der Miliz geschickt wird, mit einem Fall, in dem es um illegale Schlachtungen und Fleischverkauf geht, zeichnet sich bereits der Weg in den Stalinismus ab, in allmächtige Geheimdienste und das Eindringen der Politik in alle Bereiche, etwa unter dem Vorwand der Kampf gegen Spekulation.  Wobei es bei dem gestohlenen Herz womöglich nicht ganz um den Fleischdiebstahl und die immer neuen Erlasse geht, mit denen der Staat in den Alltag der Sowjetmenschen eindringt. Die Romanze zwischen Samson und Nadeschada blüht, auf jeden Fall hat er sein Herz an die schöne Statistikerin verloren und hegt plötzlich ganz bürgerliche Träume von einem Ehever