Homo Sovieticus, die Tscheka und das Fleisch

 Eine gefährliche und von Gewalt ganz unterschiedlicher Seiten erschütterte Stadt war das frühsowjetische Kiew schon in Andrej Kurkows ersten Roman der Reihe um den Milizionär Samson und die Statistikerin Nadeschda  nicht. In "Samson und das gestohlene Herz" hat sich das nicht geändert, ganz im Gegenteil. Mit einem Tschekisten, der in die Reihen der Miliz geschickt wird, mit einem Fall, in dem es um illegale Schlachtungen und Fleischverkauf geht, zeichnet sich bereits der Weg in den Stalinismus ab, in allmächtige Geheimdienste und das Eindringen der Politik in alle Bereiche, etwa unter dem Vorwand der Kampf gegen Spekulation. 

Wobei es bei dem gestohlenen Herz womöglich nicht ganz um den Fleischdiebstahl und die immer neuen Erlasse geht, mit denen der Staat in den Alltag der Sowjetmenschen eindringt. Die Romanze zwischen Samson und Nadeschada blüht, auf jeden Fall hat er sein Herz an die schöne Statistikerin verloren und hegt plötzlich ganz bürgerliche Träume von einem Eheversprechen. Wie gut, dass sein Kollege, ein ehemaliger Priester, eine atheistische und damit politisch akzeptable Lösung weiß...

Die Ermittlungen Samsons geraten nur stockend voran, teils wegen der privaten Ablenkungen, teils weil er sich ein wenig zerfasert zwischen Verhören, die nun nach einem bestimmten, die Angeklagten einschüchternden Schema verlaufen sollen, teils, weil er durchaus Anteil nimmt am Schicksal der Menschen, über die er urteilen soll. Denn ja. auch das ist neu: Die Polizei ermittelt nicht nur, sie fällt auch das Urteil. Unabhängige Justiz war einmal, und das gilt um so mehr, wenn der neue Kollege von der Tscheka, also der Geheimpolizei, so mächtig ist, dass selbst Samsons eigentlich keineswegs kleinmütiger Chef nicht wagt, den Mund aufzumachen.

Dass in Zeiten des Mangels auch auf einem Polizeirevier nichts sicher ist, ist eine Erfahrung, die Samson zusätzliche Arbeit beschert. Die Absurditäten des Alltags sorgen beim Lesen durchaus für Schmunzel-Momente.

Doch eigentlich ist Kurkows Buch nur zweitrangig ein Kriminalroman, geht es doch um eine Gesellschaft im Umbruch, in der die Vorstellungen von richtig und falsch, von gut und böse jeden Tag ein wenig mehr ins Wanken geraten, wo sich in einem Vakuum schnell neue Einflusszonen entwickeln,  Normales plötzlich kriminell wird und umgekehrt. Für jemanden wie Samson, der noch einen funktionierenden moralischen Kompass hat und eigentlich nur das Richtige tun will, eine Herausforderung. Revolutionärer Eifer trotzt Läusen und Mangel, die Schattenwirtschaft blüht,  Opportunismus ebenfalls. Das Ende des Buches lässt ahnen - auf Samson und Nadeschda kommen Zeiten zu, in denen ihr Glaube an die Revolution ins Wanken geraten könnte.

Andrej Kurkow, Samson und das gestohlene Herz

Diogenes 2023

352 Seiten, 24 Euro

9783257072570

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