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Es werden Posts vom Januar, 2022 angezeigt.

Fremdheit, Ankommen, Rückkehr - Der Erinnerungsfälscher

 Mit gerade mal 125 Seiten ist "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider ein schmaler Band, aber die Geschichte von Said Al-Wahid hat es in sich. Mitten im Alltag kommt die Nachricht des Bruders - die Mutter liegt im Sterben. Das würde vermutlich bei jedem eine ganze Achterbahn der Gefühle in Gang setzen, doch im Falle des Erzählers liegen die Dinge noch ein wenig komplizierter: Die Mutter ist in einem Krankenhaus in Bagdad, er selbst als mittlerweile deutscher Staatsangehöriger in Berlin. Dank einer Lesereise ist der Autor praktischerweise in der Nähe des Frankfurter Flughafens und seinen Pass hat er zum Glück immer dabei: Ein Überbleibsel der Zeit der Flucht und der langen Jahre als Asylbewerber, als er stets dokumentieren musste, wer er war und die Aufenthaltsgenehmigung ein zentrales Stück seiner Existenz war. Die Fremde, so heißt es in dem Buch, ist eine Fahrt auf einer verflixt langen Straße, die sich in Serpentinen schlängelt und ins Nichts führt. Während Said Reisepl

Wenn der Feigenbaum erzählt

  Bildhafte Sprache, eine Geschichte zwischen Fabel und Realitä, Liebe, Trauma und Erinnerung - in Elif Shafaks "Das Flüstern der Feigenbäume" kommt viel zusammen. Ich wurde auf die Autorin erstmals aufmerksam, als ich ihren Roman "Unerhörte Stimmen" las, der mich begeisterte.  Ihr neues Buch behandelt zwar ein ganz anderes Thema, hat aber ebenfalls eine metaphysische Ebene - nur dass diesmal keine Toten sprechen, sondern ein Feigenbaum, der in einem englischen Garten der Kälte trotzt. Im Mittelpunkt steht die verbotene Liebe von Kosta und Defne, für die es in ihrer Heimat Zypern keinen Platz gibt: Kosta ist Grieche, Defne Türkin. Noch sind die Ethnien nicht durch Teilung und Vertreibung nicht getrennt in den Norden und den Süden, sondern leben neben- aber auch gegeneinander. Der sensible Kosta und die energische Defne können sich nur heimlich treffen. Ihre Zuflucht wird die Taverne "Zur glücklichen Feige", deren Wirte Jorgos und Yussuf, wie sich herausste

Die helle und die dunkle Seite der Physik

 Theoretische Physik, Quantenmechanik, Teilchenberechnung und Relativitätstheorie - das ist alles reichlich anspruchsvoller Stoff für alle, die nicht gerade einen Physik-Leistungskurs oder ein naturwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Mit "Das Zeitalter der Unschärfe" schafft es Tobias Hürter aber, ein großes Stück Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch eher unbeschlagenen Lesern nachvollziehbar, interessant und nahe am Menschen, sprich den Wissenschaftlern jener Zeit, zu erzählen.  "Namen sind Nachrichten", hießt es im Journalismus und in diesem Fall beschreibt Hürter die Theorien und Persönlichkeiten der Wissenschaftler, die die Physik von 1900 bis 1945 entscheidend prägten, ihr Ringen um Theorien und Beweise, ihre Konkurrenz und ihre Freundschaften, ihre Eigenheiten und Vorlieben. Von den Forschungen Marie Curies bis zur Explosion der ersten Atombombe, von einsamen Denkern und dem Zwang, mit zunehmendem Nationalismus Position beziehen zu müsse

Sirenenlieder und einsame Monster - Honey girl

 Mit ihrem Debütroman "Honey Girl" hat die amerikanische Autorin Morgan Rogers gleichermaßen eine queere Liebesgeschichte, die Schmerzen des Erwachsenwerdens und die Herausforderungen für eine junge Schwarze Frau, sich in der weißgeprägten Forschungswelt geschrieben. Ihre Protagonistin Grace und ihre Freunde sind wie sie - lesbische Millenials, People of Color, als Endzwanziger immer noch auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und auf der Jagd nach ihren Träumen. Grace ist die Tochter eines schwarzen Berufsoffiziers und einer weißen Mutter, der sie die honigblonde Farbe ihrer Haare verdankt. Während ihre Mutter, wenn sie nicht gerade Orangen in Florida züchtet, in Retreats in aller Welt spirituelle Erneuerung sucht, kommt Grace im Verhalten eher nach ihrem Vater, bei dem sie nach der Scheidung aufgewachsen ist. Colonel, wie er auch von Grace genannt wird, ist ein Mann, dessen Leben von Disziplin und fester Ordnung bestimmt ist - und so hat er auch Grace, die er militärisch-k

Hosenanzug, Plüschpantoffeln und jede Menge Feinde - State of Terror

 Wenn eine ehemalige Außenministerin und Präsidentschaftskandidatin einen Politthriller schreibt, in dem es um Schurkenstaaten, arrogante Verbündete und einen unfähigen und populistischen Ex-Präsidenten geht, stellt sich automatisch die Frage: Wie viel von Hillary Rodham Clintons eigenen Erfahrungen und Erlebnissen ist hier eingeflossen? Die fiktive Handlung jedenfalls ist in ein Setting eingebettet, das irgendwie vertraut klingt - sei es der russische Präsident Ivanov als kalter Machtmensch mit Dominanzgehabe, der arrogante britische Premierminister mit elitärem Privatschul-Hintergrund oder der Ex-Präsident, der mit reichlich Goldprunk in Florida residiert und einen eigenen Golfplatz hat. Hat sich Clinton gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Louise Penny an alten Gegnern und politischen Narben abgearbeitet? Mag sein, dass das Schreiben einen gewissen therapeutischen Effekt hatte, mag sein, dass die ehrgeizige Politikerin das literarische Feld nicht allein dem Gatten überlassen wollte, der i

Queere Dystopie voller Vielschichtigkeit - Zum Paradies

 Was für eine Hammerschlag zum Auftakt des Bücherjahres! Mit Hanya Yanigharas "Zum Paradies" steht für mich jedenfalls fest, dass ich bereits ein Buchhighlight dieses Jahres gelesen habe und es schwer ist, hier noch zu toppen. Trotz des Umfangs von mehr als 900 Seiten habe ich das Buch regelmäßig vershclungen - wobei hier eigentlich drei Romane in einem stecken, den ich als queere Dystopie bezeichnen würde, denn die meisten der Hauptfiguren sind schwul - und das ist im ersten, im Jahr 1893 handelnden Roman so normal und selbstverständlich, dass ich mich geradezu gewundert habe, als dann doch mal von heterosexuellen Beziehungen die Rede war. Verbindendes Element der drei in sich abgeschlossenen Teile sind der Ort - ein Haus am Washington Square in New York - und die Namen der Hauptfiguren, die sich in wechselnden Konstellationen wiederholen. Ansonsten greift die Autorin durchaus zu unterschiedlichen Stilmitteln - erinnert der erste Teil in seinem Setting an einen Roman von Hen

Krieg zwischen Schrecken und Verklärung - eine Kulturgeschichte

 Ich war neugierig auf das Buch "Krieg" von von Margaret McMillan. Als "Kulturgeschichte des Krieges" war das Buch der kanadischen Historikerin angekündigt - von der Antike bis zur Gegenwart, wobei sie in ihre Definition duchaus auch Bandenkriege moderner Großstadtgangs und die internen Konflikte innerhalb von Ländern einbezieht. Wie hat sich die Haltung zu Kriegen verändert, wie hat sich Kriegführung verändert, wie haben militärische Konflikte nicht nur die jeweiligen Gesellschaften, sondern auch Kunst und Literatur geprägt? MacMillan holt hier zu einem Rundumschlag aus, mit einer langen und ausführlichen Literaturliste, neben einschlägiger Fachliteratur auch Literatur und Memoiren. Der Abriss der Kriegsgeschichte geht von der Antike bis ins Zwanzigste Jahrhundert, geht auf die englischen Rosenkriege, die napoleonischen Kriege oder den amerikanischen Bürgerkrieg ein, um nur ein Beispiel zu nennen, zeigt, wie sich militärisches Denken, die Zusammensetzung von Soldat

Wahn oder Wirklichkeit? "U" als U-Bahn-Fahrt voller Schrecken

  Er ist wieder da: Mit "U" hat Timur Vermes seinen dritten Roman veröffentlicht, im Gegensatz zu "Er ist wieder da" und "Die Hungrigen und die Satten" handelt es sich aber nicht um eine Politsatire, sondern um ein Stück fantastischer Literatur mit einem gewissen Horroreffekt. Dennn als die Ich-Erzählerin in einer namenlosen Großstadt in eine U-Bahn steigt, nur fünf Haltestellen von der Wohnung einer Freundin und der bereits herbeigesehnten Dusche entfernt, wird aus der vermeintlich kurzen Strecke ein Fahrt des Schreckens. In der zweistündigen Hörbuchfassung dominiert die Gedankenwelt der Erzählerin, gesprochen von Eva Meckbach, den Erzählfluss, auch wenn mit Shenja Lacher, Timo Weißschnur und Katharina Pütter noch drei weitere SprecherInnen vertreten sind. Doch neben den Dialogen ist es vor allem der in atemlosen Staccato und Minisätzen vorgetragene  innere Monolog, der "U" prägt. So wie Gedankn von einem Punkt zum nächsten fliegen, so geschieht