Posts

Es werden Posts vom September, 2020 angezeigt.

Vom Honeymoon-Paradies zur Klimawandel-Apokalypse - Malediven in Endzeitatmosphäre

  Das Urlaubsparadies Malediven mit den türkisblauen Wellen des Indischen Ozeans, mit Korallenriffs, die Tauchern und Schnorchlern Zugang zu einer farbenprächtigen und vielseitigen Unterwasserwelt ermöglichten – das war einmal in Roman Ehrlichs dystopischem Roman „Male“. Die Honeymoon-Hotels sind verfallen. Mit dem Anstieg der Meeresspiegel sind die Schreckensszenarien zu den Auswirkungen des Klimawandels Realität geworden. Seit die Korallenriffe die Wellen des Ozeans nicht länger brechen und abbremsen,   ist auch das Meer feindlich, buchstäblich vergiftet.  In Ehrlichs Roman hat sich statt der Touristen   nur noch eine Aussteigergesellschaft auf der einstigen Inselhauptstadt Male gehalten, zusammen mit den „Eigentlichen“, der ursprünglichen Bevölkerung und den auf einem ehemaligen Kreuzfahrtschiff stationierten Milizen, die so etwas wie die eigentlichen Herren der Inseln in einer zunehmend herrschaftslosen Zeit sind. Hinweise, dass die menschenfressenden Katzenwesen, die nachts dem Me

Road-Roman auf den Spuren des Oregon-Trail

 Sie sind ein ungleiches Paar, der introvertierte frankokanadische Schriftsteller mit dem angelsächsichen Pseudonym und die lesewütige junge Mechanikerin Pitsemine, wegen ihrer langen dünnen Beine auch die "Große Heuschrecke" genannt. Jacques Poulin, ebenfalls Frankokanadier, lässt sie in seinem Roman "Volkswagen Blues" per Zufall  auf einem Campingplatz auf der Halbinsel Gaspé zusammenkommen -  der Schriftsteller übernachtet in seinem umgebauten VW-Bus,  die junge Frau ist per Anhalter unterwegs. Aus einer angepeilten kurzen Strecke wird eine lange gemeinsame Reise, aus Fremdheit wird Vertrauen und Freundschaft in diesem langsam erzählten Buch, in dem es immer wieder auch um Bücher und Worte, um Entdeckungen und die Spuren nordamerikanischer Entdecker und Pioniere geht. Der Schriftsteller sucht seinen Bruder Théo,  zu dem er seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Eine alte Postkarte mit einer merkwürdigen alten Schrift ist der einzige Hinweis, dem er folgt -

Streifzüge durch die Nacht - noch einmal geht´s ganz um die Welt in der Dunkelheit

  Fast scheint es, als sei in diesen eher düsteren Pandemiezeiten die Nacht eine neue Lese-Entdeckung: Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan schrieb vor einiger Zeit und für einen Naturwissenschaftler ungewöhnlich poetisch über die "Magie der Nacht", der Landschaftsfotograf Kilian Schönberger nahm mit "Nachts im Wald" die Leser in Wort und Bild mit zu Abenteuern zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang und auch Dirk Liesemer begibt sich mit "Streifzüge durch die Nacht" in die Dunkelheit - mal in einem wandernden Alleingang, mal mit Experten als sachkundigen Gesprächspartnern. Das unterscheidet dieses Buch von den eher in Einsamkeit recherchierten anderen Titeln. Liesemer trifft Künstler und Kreative, die Nacht künstlerisch verarbeiten, einen Klangexperten, der Geräusche - die in einer stillen Nacht ja noch viel unvermittelter wirken - in Filme als Klangteppich einwebt.  Der Autor begleitet einen Jäger auf den Hochsitz (und ist ganz froh, dass am End

Die Magie von Nacht und Wald - Wanderabenteuer und Landschaftsfotografie

 Als Landschaftsfotograf ist Kilian Schönberger ein eher visuell ausgerichteter Mensch. In seinem Buch "Nachts im Wald" zeigt er aber, dass er die Natur nicht nur mit der Kamera dokumentiert, sondern auch viel Ahnung hat von Fauna und Flora und Naturzusammenhänge gut zu erklären versteht. Für sein mit zahlreichen stimmungsvollen Fotografien illustriertes Buch ist er immer wieder losgezogen - im Bayrischen Wald und in der Oberpfalz, in den Alpen und in der Rhön, auf Rügen und in der Oberlausitz - immer nachts beziehungsweise in der Dämmerung, um die Nachtseite der Natur zu erleben. Naturverbunden war Schönberger wohl schon als Kind - und wie für viele Kinder war der Wald für ihn ein Ort der Abenteuer und Entdeckungen fern elterlicher Überwachung. Dass die Faszination des Waldes auch im Erwachsenenalter weiter besteht, ist auf jeder Seite von "nachts im Wald" zu spüren. Die Idee ist reizvoll: Wie ist die Wirkung des Waldes, wenn man sich auf einer Wanderung von Mondli

Öst-westliche Himmelsbetrachtungen - "Die Dame mit der bemalten Hand"

Christine Wunnicke hat ziemlich viel in "Die Dame mit der bemalten Hand" gesteckt - ein bißchen historischer Roman, ein bißchen Lust an Forschung und Entdeckung, am Ausloten und Überwinden sprachlicher und kultureller Grenzen und ost-westlicher Kulturdialog. Auf einer verlassenen Tempelanlage auf einer Insel vor Indien treffen sie aufeinander: Der persische Astronom Musa al Lahori, der mit seinem Diener während einer Reise auf der Insel gestrandet ist, und der deutsche Astronom und Kartograph Carsten Niebuhr, von Fieber geschüttelt und letzter überlebender Teilnehmer einer Forschungsexpedition im Auftrag des dänischen Königs. Der polyglotte Musa muss Geduld aufbringen mit dem bleichen Europäer, dessen Arabisch mit abenteuerlichen Redewendungen gespickt ist, die für den Leser klingen wie die blumige "orientalische" Sprache aus Hauffs Märchen. Carsten Niebuhr ist übrigens keine fiktionale Figur, sondern war tatsächlich im 18. Jahrhundert Forschungsreisender.  Musa kom

Keine Chance gegen Rassismus?

Wenn man Robin DiAngela, Autorin von "Wir müssen über Rassismus sprechen", Glauben schenkt, dann sind Weiße per se Rassisten. Leugnen ist zwecklos, Abwehr- und Erklärungsversuche nur ein Zeichen "weißer Fragiliät". Und am allerschlimmsten sind die "Wohlmeinenden Progressiven", die versichern, sie sähen keine Hautfarben, sondern Menschen. Damit leugneten sie nämlich den Rassismus in dem sie sozialisiert und lebenslang gefangen seien. Peng, das hat gesessen! Zwar schreibt DiAngelo, die eine "Diversitätstrainerin"  ist,  über die US-Gesellschaft, zieht Vergleiche zu Australien oder Südafrika - also Länder, in denen vor allem die Geschichte, Realität und der Bevölkerungsanteil Schwarzer Menschen ganz anders ist als etwa in Deutschland. Der Vorschlag, Schwarze Menschen/People of Colour durch Migranten zu "ersetzen", kommt mir angesichts der ganz anderen historischen Bedingungen eher schief vor. Trotzdem, DiAngelo (die selbst übrigens weiß is

Whistleblower, Korruption und zwei Präsidenten - Doppelte Spur

 Es liegt nicht nur am Namen des Ich-Erzählers, dass in Ilja Trojanows neuem Roman "Doppelte Spur" Fiktion und - mögliche - Realität zu verschwimmen scheinen. Denn mit dem Journalisten Ilja Trojanow hat der Schriftsteller seinen Zwilling auf  Buchseiten geschaffen und auch die Vorgänge, die der investigative Reporter recherchiert, haben so manche Entsprechung in der Wirklichkeit. Und wer vielleicht Luke Hardings Buch über die Arbeit mit Whistleblower Edward Snowden gelesen hat (falls nicht, sehr empfehlenswerte Lektüre!) wird beim Lesen einen gewissen Wiedererkennungseffekt zu lesen, auch wenn es hier nicht um die NSA geht, sondern um einen russischen Staatschef, einen amerikanischen Präsidenten und den Sexskandal um einen pädophilen Finanzier mit besten politischen und wirtschaftlichen Verbindungen.  Der Titel "Doppelte Spur" bezieht sich auf die Tatsache, dass die Romanfigur Trojanow per Email gleich von zwei Whistleblowern kontaktiert. Eine Frau aus den USA mit d

Run, Kalmann, run!

Kalmann Odinsson, der Titelheld  des Romans von Joachim B.Schmidt, ist eine Art isländischer Cousin von Forrest Gump. Intellektuell eher unterbelichtet, ein Tor reinen Herzens, von anderen ein wenig als Sonderling angesehen. Ein Mensch, dem Doppelbödigkeit und Ironie fremd sind und der Fragen wortwörtlich nimmt. Würde Kalmann in einer Großstadt leben, wäre er womöglich in einer integrativen Wohngemeinschaft  mit einer Arbeit, die mehr Beschäftigungstherapie ist.  Aber er lebt in dem Dorf Raufarhövn am Polarkreis und sein Großvater meinte immer, Kalmann sei ganz normal -auch wenn die Räder in seinem Kopf manchmal verkehrt liefen. Also ging Kalmann nicht auf eine Sonderschule, sondern aud die Dorfschule, lernte von seinem Großvater jagen und angeln. Jetzt ist er der selbsternannte Sheriff von Raufarhövn und Experte für Gammelhai. Da Kalmanns Mutter als Krankenschwester in der nächstgrößeren Stadt arbeitet und der mittlerweile demente Großvater im Pflegeheim lebt, lebt Kalmann alleine u

Der Mops als Protest - "Das Palais muss brennen"

Maschinenbau und Schriftstellerei - das ist eine eher ungewöhnliche Kombination. Mercedes Spannagel kombiniert beides: Die Österreicherin studiert in Wien Maschinenbau und hat mit "Das Palais muss brennen" jetzt ihren Debütroman vorgelegt. " Abgründig, rasant und mit bitterbösem Sprachwitz"  heißt es im Klappentext über das Buch vom Generationskonflikt zwischen einer korrupten rechten Elite und ihrer rebellischen Brut, das es auf die Shortlist Debüt des Österreichischen Buchpreis geschafft hat. Ich-Erzählerin ist Luise, die Tochter der österreichischen Bundespräsidentin, einer rechtskonservativen Politikerin, die ihre Liebe eher an ihre neun Windhunde verteilt als an Luise und ihre Schwester Yara, die das Kunststudium ohne Wissen der Mutter geschmissen hat, jetzt in einem Tätowierstudio arbeitet und ansonsten ziemlich depressiv ist. Luise wiederum legt sich aus Protest gegen die Windhunde einen Mops zu, den sie Marx nennt, schwingt gerne revolutionäre Reden, hat

Erinnerungen aus dem Grau - "Das Schwarze Königreich" schildert Überleben in Warschau Ruinen

Mit seinem Roman "Das schwarze Königreich" schließt Szczepan Twardoch an seinen Erfolgsroman "der Boxer" an. Auch hier geht es wieder um Jakub Szapiro, den ehemaligen Boxer und Gangster, der sich in den 20-er und 30-er Jahren als "König von Warschau" fühlen dürfte. Doch in dem Roman, der während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg spielt, ist die Situation eine völlig andere. Und auch sprachlich unterscheidet sich dieses Buch von seinem Vorgänger. Bildhaft-brachial geht es auch hier zu, doch gleichzeitig lässt Twardoch eine Reihe von Manierismen einfließen, die für mich teilweise schon ein bißchen "too much" sind - leider, denn abgesehen davon handelt es sich um ein ziemlich atemberaubendes Buch. Der Szapiro des "schwarzen Königreichs" ist nur noch ein Schatten des alten Alphamannes, der sein Leben im guten wie im schlechten aus dem vollen lebte. Der selbstbewusste Gangster ist nur noch in der Erinnerung groß. Der Mann, der H

Dialog in der Provinz - "Goldene Jahre"

Wenig Handlung, viel dahinplätschernder Dialog - und gerade dadurch wird in Arno Camenischs gerade mal 100 Seiten umfassenden Roma "Goldene Jahre" ein Porträt Graubündener Provinz gezeichnet.  Seit dem Jahr der Mondlandung betreiben Margrit und Rosa-Maria  ihren Kiosk samt Zapfsäule, bilden einen der Dreh- und Angelpunkte ihres Dorfes und halten im Gespräch Rückschau auf 51 Jahre mit dem Verkauf von Heftlis, der Tour de Suisse als Highlight, den Amouren und Liebeskummer der Nachbarn. Ein wenig ist "Goldene Jahre" auch ein Abgesang auf Jugend (obwohl sich Margrit und Rosa-Maria nun wirklich noch nicht zum alten Eisen zählen), dem Einbruch des wirtschaftlichen Erfolgs der  Zapfsäule, seit die Umgehungsstraße gebaut wurde und die durchreisenden Touristen nicht mehr am Kiosk die letzte Tankfüllung vor der Tankstraße holen.  Und auch die Winter waren früher ganz anders - mittlerweile wird der Nachbar mit der Schneefräse kaum noch gebraucht. Der Klimawandel lässt grüßen

Wortgewaltiges Familienporträt - Die Infantin trägt den Scheitel links

Fulminant, ausdrucksstark, bildgewaltig - Helena Adler hat mit "Die Infantin trägt den Scheitel links" ein krachendes Familienporträt einer österreichischen Bauernfamilie geschrieben. Es ist ein Buch wie ein Gemälde, mit nicht immer schmeichelhaften Beschreibungen der Familie aus der Sicht der jüngsten Tochter der Familie, die sich einerseits am Ende der familiären Hackordnung fühlt, andererseits mit ihrer scharfen und bissigen Beobachtungsgabe das Leben auf dem Hof kommentiert. Die Wortwucht schlägt schon gleich auf den ersten Seiten durch, wenn die vierjährige Erzählerin eine gemeinsame Mahlzeit der Großfamilie beschreibt.  Mehrere Generationen leben unter dem Dach, und vor allem die Urgroßeltern werden eindrücklich porträtiert: "Die langen Finger der Urgroßmutter stehen ab wie spitze Holzschiefer vom Tisch ab, um den wir alle sitzen. Die Arbeiterhände des Urgroßvaters sind übersät von Altersflecken und hervortretenden Adern. Sie ragen aus den Ärmeln seiner braunen W

Vom inneren Ghetto - "Kein Ort ist fern genug"

Manches ist geschrieben worden über die „survivors guilt“, das Schuldgefühl derjenigen, die den Holocaust überlebt hatten, während so viele andere sterben mussten, das Gefühl, gewissermaßen ohne eigenen Verdienst davongekommen zu sein mit so viel anderen Verlusten. Der Protagonist von „Kein Ort ist fern genug“ entwickelt dieses Schuldgefühl aus weiter Ferne in Argentinien, wenn er auf die Situation in Warschau im Zweiten Weltkrieg blickt. Von hier ist Vicente, eigentlich Wincenty, ein polnischer Jude, in den späten 20-er Jahren nach Südamerika ausgewandert. Santiago Amigorena hat seinen Roman im französischen Original „Das innere Ghetto“ genannt, und dieser Titel trifft die Essenz des Buches. Denn während Vicente eigentlich mit seiner europäischen Vergangenheit abgeschlossen hat, in Argentinien eine Familie und eine geschäftliche Existenz   gegründet hat, ist seine Mutter mit dem älteren Bruder in Warschau geblieben.   Anfangs reagiert Vicente genervt auf die Wünsche der Mutter n