Vom inneren Ghetto - "Kein Ort ist fern genug"
Manches ist geschrieben worden über die „survivors guilt“,
das Schuldgefühl derjenigen, die den Holocaust überlebt hatten, während so
viele andere sterben mussten, das Gefühl, gewissermaßen ohne eigenen Verdienst
davongekommen zu sein mit so viel anderen Verlusten. Der Protagonist von „Kein
Ort ist fern genug“ entwickelt dieses Schuldgefühl aus weiter Ferne in
Argentinien, wenn er auf die Situation in Warschau im Zweiten Weltkrieg blickt.
Von hier ist Vicente, eigentlich Wincenty, ein polnischer Jude, in den späten
20-er Jahren nach Südamerika ausgewandert.
Santiago Amigorena hat seinen Roman im französischen
Original „Das innere Ghetto“ genannt, und dieser Titel trifft die Essenz des
Buches. Denn während Vicente eigentlich mit seiner europäischen Vergangenheit
abgeschlossen hat, in Argentinien eine Familie und eine geschäftliche
Existenz gegründet hat, ist seine Mutter
mit dem älteren Bruder in Warschau geblieben.
Anfangs reagiert Vicente genervt auf die Wünsche der Mutter nach
regelmäßigen Briefen, lässt die Schreiben, die ihn erreichen, auch längere Zeit
unbeantwortet. Selbst der Beginn des Zweiten Weltkriegs ändert daran zunächst
wenig.
Erst nach und nach macht sich Vicente klar, dass die
beunruhigenden Zeitungsberichte, die sein ebenfalls aus Polen stammender Freund
Ariel im Kaffeehaus diskutiert, für seine Mutter einen ganz persönlichen Bezug
haben. Der Mann, der sich längst als
Argentinier betrachtet hat, der auch in Polen mit dem orthodoxen Judentum wenig
am Hut hatte und sich eher als Pole gefühlt hatte, entwickelt angesichts der
Vorgänge in Europa ein Bewusstsein für seine eigene jüdische Identität als
Konfrontation mit dem Antisemitismus, wobei dies eine eher schmerzlich-ambivalente
Erfahrung ist:
„Mit am schlimmsten am Antisemitismus ist die Tatsache, dass
Juden sich zwangsläufig als Juden zu fühlen haben, dass man sie auf eine
Identität jenseits ihres Willens festlegt und kurzerhand für sie beschließt,
wer sie wirklich sind. … Wie viele Juden verstand Vicente allmählich, dass der
Antisemitismus Semiten braucht, um existieren zu können.“
Die Deportationen, die Einrichtungen von Ghettos, die „Sonderaktionen“
– vor Argentinien aus ist das weit weg, sprengt auch die Vorstellungskraft von
Vicente, Ariel und ihren Freunden, um so mehr die der argentinischen Nachbarn.
Doch mehr noch als die Zeitungsartikel und Wochenschauberichte sind es die
immer spärlicher werdenden, die immer sehnsüchtiger erwarteten Schreiben der
Mutter, die Vicente die Augen öffnen.
Gewiss, er hatte davon gesprochen, die Mutter nach
Argentinien zu holen, war aber doch erleichtert zu wissen, dass sie
bestimmt nicht seine Geschwister
zurücklassen würde. Hätte er drängen müssen, hätte er die Zeichen der Zeit
erkennen müssen? Während seine Mutter aus dem Ghetto von Hunger und dem
allgegenwärtigen Tod auf den Straßen berichtet,
begibt sich Vicente in das „innere Ghetto“, in eine von der Umgebung
abgeschottete Gedankenwelt, in der kein Platz mehr für die Liebe seiner Frau
und seiner Kinder, für die Arbeit ist. Glücksspiel, Pferdewetten, Nächte im
Kaffeehaus sind einer Flucht aus dieser Realität wie auch aus der Realität in
Europa.
Der Brief seiner Mutter hatte Vicente die Augen geöffnet und
ihn zum Schweigen gebracht angesichts des Unsagbaren. „Sein Blick ist
inzwischen gesprächiger geworden, als es seine Lippen je waren“ konstatiert
sein Freund Ariel. Aus dem inneren Ghetto gibt es keinen Ausweg, so wie auch
der Weg der Mutter aus dem Warschauer Ghetto nur vom berüchtigten Umschlagplatz
in das Vernichtungslager Treblinka gehen konnte.
Auch Vicente ist ein
Überlebender, ein Davongekommener, der
von Schuldgefühlen niedergedrückt und zum Verstummen gebracht wurde. Es ist
sein Enkelsohn Amigorena, der sich sein Bild der Familiengeschichte erschreibt.
„Kein Ort ist fern genug“ ist keine klassische
Holocaustliteratur und doch untrennbar mit der Erfahrung der Schoah verbunden. Das Buch erzählt langsam, eher unspektakulär.
Es ist sowohl ein Psychogramm wie eine Warnung von Gleichgültigkeit angesichts
scheinbar ferner Ereignisse.
Santiago Amigorena, Kein Ort ist fern genug
Aufbau Verlag, 2020
184 Seiten, 20 Euro
978-3-351-03831-1
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