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Es werden Posts vom Juni, 2023 angezeigt.

Zweckgemeinschaft und Ersatzfamilie

 Es ist nicht ganz die typische WG, die in Franziska Fischers Roman "Unsere Stimmen bei Nacht" (so poetisch können Küchengespräche der Bewohner bezeichnet werden!) in einer Berliner Villa zusammenfindet. Denn Herbert und Gloria, sowohl Eigentümer als auch Mitbewohner, brauchen einerseits Geld und haben andererseits reichlich Platz, nachdem die drei Kinder ausgezogen sind und ihr eigenes Leben leben - auch wenn Ex-Bilbliothekar Herbert einen Großteil des Erdgeschosses in ein eher schlecht gehendes Antiquariat umfunktioniert hat.  Am ehesten typische WG-ler sind Politikstudent Jay, der lieber auf seiner Gitarre komponiert als sein Studium  voranzutreiben, und Lou, die zwar schon Mitte 30 ist, aber eher ungeplant in den Tag hineinlebt und gerne immer wieder neu aufbricht. Außerdem gibt es noch Chemieprofessor Gregor, gewissermaßen der Prototyp des zerstreuten Professors, und seine 15-jährige Tochter Alissa, die nicht nur mit Pubertätsproblemen zu kämpfen hat, sondern auch unter

Schauspieler-Biografie als Abrechnung mit Hollywood und Queerfeindlichkeit

Für ungeschönte Ehrlichkeit verdient Elliott Page sicherlich fünf Punkte. Es kann nicht einfach sein, das eigene Innerste und den langen und schmerzhaften Weg zur eigenen Identität so auszubreiten, gerade auch in dem Wissen um Feindseligkeit und Vorurteile, die Transmenschen entgegenschlagen, und die er selbst erfahren hat. Die Geschichte ist ja bekannt: In sehr jungen Jahren Hollywood-Ruhm unter damals noch anderem Namen und Geschlecht, bekannt als Ally für die queere community, dann die Erklärung, selbst queer zu sein (hat eher wenig überrascht), schließlich das Coming Out als trans und den Weg zu dem Körper und der Identität, die er eigentlich schon als Vierjähriger haben wollte. So ein Seelenstriptease kann nicht einfach sein, auch nicht für jemanden, der schon als Kind vor Kameras agiert hat. Und Page schildert ja auch, wie dramatisch das Ringen war: Essstörungen, Selbstverletzungen. Tränenmeere bei den Therapiesitzungen. Das Korsett der Hollywood-PR, die ihn - angefangen von Kost

Von Neuengland nach Hollywood: Winslows Gangstersaga überzeugt erneut

 Der erste Teil von Don Winslows Gangster-Triologie "City on Fire" über Aufstieg und Fall eines irisch-amerikanischen Gangsterclans in Neuengland, über Bandenkriege, Liebe, Ehrgeiz und Verrat erinnerte mich mit seiner dramatischen Wucht an eine griechische Tragödie. Teil zwei, mit dem Titel "City of dreams", steht dem nicht nach. Auch wenn es sicher gut ist, das erste Buch zu kennen (und meine Lese-Empfehlung hat es sowieso!) verrät der Autor mit Rückblenden genug über Geschichte und Vergangenheit seines Protagonisten Danny Ryan, damit neue Leser*innen dem Plot problemlos folgen können. City on Fire spielte noch in der Ostküstenstadt Metropole, in "City of Dreams" verlagert sich das Geschehen vor allem nach Los Angeles und Las Vegas. Danny Ryan, frisch verwitwet mit einem kleinen Sohn und einem zunehmend dementen Vater, ist mit seinen letzten Getreuen auf der Flucht: Vor den einstigen Freunden der irischen Gang, vor der italo-amerikanischen Konkurrenz, der

Afrokaribische Magie

 In ihrem Debütroman "Als wir Vögel waren" führt die aus Trinidad stammende Autorin Ayanna Lloyd Banwo ihre Leser auf eine fantastische Reise voller afrokaribischer Magie, Spiritualität und Geisterglaubens. Ihr Buch ist sowohl eine Liebesgeschichte als auch eine Reflektion über Leben, Tod und das Unbekannte jenseits des letzten Atemzugs. Auch wenn ich mich in der Karibik nicht auskenne, erinnert mich manches an die Geisterwesen der Igbo oder Yoruba, an Woodoo aus Benin - aber gerade daraus, aus dem kulturellem Erbe der versklavten Afrikaner, dürfte ja auch die karibische Entsprechung des Geisterglauens stammen. Banwos Buch stützt sich auf zwei Protagonisten: Emmanuel Darwin ist ein junger Rastafarian vom Lande, der nach Port Angeles auf der Suche nach Arbeit gekommen ist, um seine alleinerziehende Mutter zu unterstützen. Der einzige erhältliche Job stößt ihn in einen Gewissenskonflikt: Er soll als Totengräber auf dem Friedhof arbeiten. Dabei verbietet ihm seine Religion, sich

Die Liebenden und ihre Trauer

 Akwaeke Emezi, aus Nigeria stammend und in den USA lebend, hatte mich mit ihren ersten Romanen fasziniert. Da traf queerfeministische Haltung auf Spritualität der Volksgruppe der Igbo, rieben sich afrikanische und amerikanische Wertvorstellungen aneinander, schien sich die nichtbinäre Autor*in auszuloten zwischen den Welten. Das Lesen war mit einem ziemlichen Wow-Effekt verbunden. Emezis neuer Roman "Du bist so schön, sogar der Tod erblasst" lässt mich allerdings zwiespältig zurück.  Denn irgendwie kommt es mir vor, als habe sich Emezi diesmal an den kommerziellen Erfolg verkauft, womöglich gar auf die Vefilmbarkeit des Romans geschielt mit Schauplätzen in einem New Yorker Brownhouse und einer Karibik-Insel, mit Künstler- und Stargastronomen-Milieu und Queerness gedämpft auf das, was einem Mainstream-Publikum auch alter Werte zumutbar ist. Dabei ist der Plot gar nicht ohne: Die Künstlerin Feyi ist nach dem Unfalltod ihres Mannes vor fünf Jahren wie eingefroren, kann eine neu

Hochdramatischer Psychothriller in trügerischer Vorstadtidylle

  "Die Familie gegenüber" ist bereits das zweite Buch der australischen Autorin Nicole Trope, das ich in diesem Jahr gelesen habe. Nach "die Tochter meines Mannes" waren meine Erwartungen an "Die Familie gegenüber hoch. Und ich bin nicht enttäuscht worden. Dieser Psychothriller, in dem es um mehr als ein Familiendrama geht, ist äußerst dramatisch und hochspannend, mit eine Twist, der der Geschichte kurz vor Schluss noch einmal eine ganz neue, aber im Gesamtplot äußerst stimmige Richtung gibt. Und einmal mehr spielt die Autorin mit Zeit- und Erzählebenen, die die Leser über manche später wichtige Entwicklingen zunächst im Ungewissen lassen beziehungsweise grübelnd, wie sich die Stränge wohl zusammenfügen mögen. Dramatisch geht es bereits zu Beginn zu: Eine junge Mutter beschäftigt sich mit ihrem Baby, als sie von draußen Knallgeräusche wahrnimmt. Die ältere Nachbarin ist in heller Aufregung, redet von Schüssen. Die Polizei, die kurz darauf auftaucht, wirkt nur a

Ein Fremder bis in den Tod

 In seinem Buch "auf dem Null-Meridian" lotet Shady Lewis die Erfahrung von Fremd-Sein in einer Mehrheitsgesellschaft vielschichtig, ja geradezu philosophisch aus. Mit seinem Ich-Erzähler eint ihn die Herkunft aus der Minderheit der christilichen Kopten in Ägypten. Dieser Erzähler hat es aus der Sicht seiner Familie geschafft: Schließlich arbeitet er in London als Sozialarbeiter für die Vergabe von Sozialwohnungen in einem Büro, so richtig mit Schreibtisch und Bürostuhl! Ein Onkel dagegen, der sich schon Jahre zuvor über das Mittelmeer nach Großbritannien durchgeschlagen hat, viele Rückschläge und Hindernisse überwinden musste, putzt ungeachtet seines Bildungsabschlusses immer noch Toiletten. Wie stolz ist er auf den Neffen, der in einem Verwaltungsjob angekommen ist! Dabei, so der Erzähler, sind die weißen Briten in der Arbeit überhaupt nicht präsent, allenfalls ferne Vorgesetzte: Nahezu sämtliche Sozialarbeiter, Sachbearbeiter, Psychologen, mit denen er zu tun hat, sind ebe

Ein Thriller fürs digitale Zeitalter

 "Going Zero" von Anthony McCarten ist ein moderner Thriller des digitalen Zeitalzers, der Spannung und einen interessanten Plot mit nachdenkenswertem Stoff verbindet. Es beginnt als Spiel mit großem Einsatz: Im Rahmen eines Projekts, das zugleich der Testfall für eine private-public partnershio zwischen CIA und FBI einerseits und einem gigantischen Cyberunternehmen andererseits ist, sollen zehn Testpersonen 30 Tage lang von der Bildfläche verschwinden. Wer das schafft, ohne von Zugriffsteams, Drohnen oder den Teams des Unternehmers Cy Baxter aufgespürt zu werden, dem oder der winkt ein Preisgeld von drei Millionen Dollar.  Ist Baxter erfolgreich, winkt ihm eine Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden, die ihm Zugriff auf eine Fülle von Daten erlaubt - eine Machtfülle, wie sie ein Privatunternehmer nicht haben sollte? Und können Sicherheitsbehörden die Datentechnik Baxters wirklich nur für das Aufspüren von Terroristen, organisierten Verbrechern usw nutzen? Schon bei dem G