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Es werden Posts vom November, 2021 angezeigt.

Postsowjetische Abenteuer - "Ein schreckliches Land"

 Um im postsowjetischen Moskauer Großstadtdschungel zu überdauern, braucht es eine gewissen Härte, Gewitztheit und Geld und/oder Beziehungen. Der Literaturwissenschaftler Andrej Kaplan begreift das recht schnell, als er auf Drängen seines älteren Bruders Dima in seine Geburtsstadt zurückkehrt, um sich um die leicht demente Großmutter zu kümmern. Andrej war sechs Jahre alt, als seine Eltern als jüdische Kontingentsflüchtlinge die Sowjetuntion verließen und in die USA ausreisten - zu jung, um noch viele Erinnerungen an das damalige Leben zu haben. Er wurde voll integrierter Amerikaner, der zehn Jahre ältere Dima hingegen, so schreibt der Ich-Erzähler in Keith Gessens Roman "Ein schreckliches Land" hingegen blieb Russe. Kein Wunder also, dass Dima nach dem Zerfall der Sowjetunion zurückkehrte, in den wilden 90-er Jahren eine Karriere als "Biznesman" machte. Nun brennt ihm aber der Boden unter den Füßen, er hat sich bei seinen Geschäften mit den falschen Leuten angelegt

Überlebenskampf während des "Großen Hungers"

 Der "große Hunger" Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in der kollektiven Erinnerung der Iren eingebrannt. Der Hungertod von hunderttausenden, die nach der Kartoffelfäule gleich mehrere Winter ohne das Hauptnahrungsmittel der einfachen Leute zu überleben versuchten, mag im reichen Europa von heute unvorstellbar sein. Doch das Drama wurde in Gedichten und Liedern verarbeitet und steht nun auch im Mittelpunkt von Paul Lynch´s "Grace", gleichermaßen historischer Roman und Coming of Age Story mit einer bildhaft-poetischen Sprache. Die Titelheldin Grace ist 14, als ihre Mutter sie vor die Hütte zerrt und ihr an dem Baumstumpf, auf dem sonst die Hühner geschlachtet werden, die langen Haare abschneitet. Grace soll sich in einen Jungen verwandeln und auf der Landstraße ihr Glück, Arbeit und Auskommen finden. So grausam es scheint, auf diese Weise unvermutet in Männerkleidung von Zuhause weggeschickt zu werden - die Mutter will Grace schützen vor ihrem Quasi-Stiefvater, der

Posthumer Roman von John LeCarré - Spione in der Abenddämmerung

 Ach wie gut, dass John LeCarré bei seinem angesichts des hohen Lebensalters nicht völlig überraschenden, aber gleichwohl bedauerlichem Tod keinen blanken Schreibtisch hinterließ. sondern auch ein Manuskript. Zum 90. Geburtstag des großen alten Gentleman anspruchsvoller Spionageliteratur ist nun "Silverview" erschienen, und auch wenn es nicht ganz mit der Karla-Triologie mithalten kann, hält auch dieses Buch, was der Autorenname verspricht. Wieder einmal zeigt LeCarré, wie die Ränke- und Doppelspiele von Agenten und Verrätern den Alltag seines Protagonisten verändern und immer neue Fragen aufwerfen. Ein wenig scheint "Silverview" aus der Zeit gefallen, die Technologie des 21. Jahrhunderts hat zurückzustehen hinter persönlichen Begegnungen und Übergaben von Nachrichten, toten Briefkästen und abhörsicher arrangierten Treffen, man ist als Spion schließlich immer misstrauisch und rechnet mit unerwünschten Beobachtern. Oder ist spätestens seit dem NSA-Skandal bei den &qu

Wurzelsuche an Seen und Inseln

 Eine Buchhändlerin bringt man in der Regel nicht unbedingt mit Outdoor-Aktivitäten in Verbindung. Die Autorin und Buchhändlerin Louise Erdrich allerdings macht sich mit ihrer kleinen Tochter auf den Weg in die Seen- und Inselwelt des Ojobwe County im kanadisch-amerikanischen Grenzgebiet. Für Erdrich ist es auch eine spirituelle Reise zu ihren Wurzeln und denen ihre Tochter: Ihre Mutter war Ojibwe, der Vater ihres Kindes ist ein Ojibwe Medizinmann und fest verwurzelt in den Traditionen seines Volkes. Für Erdrich, die die Ojibwe-Sprache nur lückenhaft beherrscht und "weiß" aufgewachsen ist, ist die Reise daher auch eine Auseinandersetzung mit Bräuchen und Erzählungen, mit mündlicher Überlieferung und Felsmalereien, mit dem Ringen um den Erhalt der eigenen Identität, dem sie auf ihrer Reise immer wieder begegnet.  Louise Erdrichs episodenhafte Erzählung berichtet von den Menschen, denen sie begegnet, streift auch die Auseinandersetzung mit der Politik der Vergangenheit, als ind

Der Sportler und der Kleinstadtjournalist - ein Sohn der Stadt

 Kent Harun gehört zu den Autoren, die ich erst posthum entdeckt habe. Im vergangenen Jahr hat mich "Kostbare Tage", gewissermaßen der Schwanengesang des 2014 gestorbenen Schriftstellern und Abschluss seiner sechsteiligen Romanreihe über das fiktive Städtchen Holt im Mittleren Westen der USA, sofort überzeugt. Die letzten Wochen eines todgeweihten Mannes, der Rückschau hält und Abschied nimmt, seine Angehörigen in dem Trauer- und Loslöseprozess, der angesichts der Diagnose schon vor dem eigentlichen Tod beginnt, so unprätentiös und doch eindringlich interessiert, dass ich das Gefühl hatte, mit den Protagonisten in einem gemächlich wippenden Schaukelstuhl auf einer dieser Verandas zu sitzen, wie man sie aus Westernfilmen kennt, und auf weites Land unter einem hohen Himmel hinauszublicken. "Ein Sohn der Stadt" spielt ebenfalls in Holt, in den 60-er Jahren und diesmal könnten die Protagonisten, die zusammen in der Kleinstadt aufwuchsen und in ihrer Schulzeit befreundet

Junge Frau als Bauernopfer in Terror-Paranoia

 Ein provokanter Facebook-Post, mit dem die junge Textilverkäuferin Jivan eigentlich nur Likes und Aufmerksamkeit erzielen wollte, wird für die junge Frau in einem indischen Slum zu Verhängnis: Polizisten stürmen mitten in der Nacht die Behausung der Eltern, nehmen Jivan fest, die mit schweren Vorwürfen konfrontiert wird: Sie soll Terroristen, die einen Anschlag auf einen Zug verübten, überhaupt erst denWeg durch die verwinkelten Straßen des Slums gezeigt haben und so bei der Tat geholfen haben, über Facebook soll sie mit einem Terroranwerber in Kontakt getreten sein. Mit "In Flammen" schildert Megha Majumdar eine Art indischer Version der "verlorenen Ehre der Katharina Blum", in unserer Zeit und den aktuellen Terrorgefahren. Ihre Protagonistin ist eine chancenlose junge Frau, die in das Mühlwerk eines unbarmherzigen Justizsystems, politischer Ambitionen und Hetze in den Medien gerät. Eine faire Chance im Kampf um ihre Freiheit und ihr Leben wird sie nie haben. Als