Der Sportler und der Kleinstadtjournalist - ein Sohn der Stadt

 Kent Harun gehört zu den Autoren, die ich erst posthum entdeckt habe. Im vergangenen Jahr hat mich "Kostbare Tage", gewissermaßen der Schwanengesang des 2014 gestorbenen Schriftstellern und Abschluss seiner sechsteiligen Romanreihe über das fiktive Städtchen Holt im Mittleren Westen der USA, sofort überzeugt. Die letzten Wochen eines todgeweihten Mannes, der Rückschau hält und Abschied nimmt, seine Angehörigen in dem Trauer- und Loslöseprozess, der angesichts der Diagnose schon vor dem eigentlichen Tod beginnt, so unprätentiös und doch eindringlich interessiert, dass ich das Gefühl hatte, mit den Protagonisten in einem gemächlich wippenden Schaukelstuhl auf einer dieser Verandas zu sitzen, wie man sie aus Westernfilmen kennt, und auf weites Land unter einem hohen Himmel hinauszublicken.

"Ein Sohn der Stadt" spielt ebenfalls in Holt, in den 60-er Jahren und diesmal könnten die Protagonisten, die zusammen in der Kleinstadt aufwuchsen und in ihrer Schulzeit befreundet waren, unterschiedlicher nicht sein: Jack Burdette, der intellektuell nicht gerade überragende, aber als Fußballer an der high school bewunderte Junge, der buchstäblich von der falschen Seite der Bahngleise stammt, und der Ich-Erzähler, Sohn des Herausgebers der Lokalzeitung und später selbst Journalist und Herausgeber des Blattes. Es fällt schwer, nicht den jungen James Stewart aus "Ist das Leben nicht schön" oder "Mr Smith geht nach Washington" vor Augen zu haben,  wenn ich dem Kleinstadtleben durch die Augen des Erzählers verfolge.

Da Jack ein Sportstipendium bekommt, finden sich die beiden Schulfreunde sogar auf dem gleichen College wieder, doch es wird schnell klar, dass Burdette, der sich nun gegen andere Sporttalente behaupten muss, weder die Geduld noch die Disziplin hat, um etwas aus der Collegezeit zu machen - Er bricht das Studium ab und geht zur Army, während der Erzähler nach seinem Journalistikstudium seinem Vater unter die Arme greift und eine Professorentochter als Ehefrau mit nach Holt bringt, die mit der Kleinstadt nur wenig anfangen kann.

Auch Jack kehrt eines Tages zurück und bekommt dank seines alten Ruhms als Sportheld einen Posten bei einer landwirtschaftlichen Genossenschaft. Als er dank frisierter Bücher mit einer hohen Geldsumme verschwindet und dabei seine schwangere Frau und zwei kleine Kinder zurücklässt, löst das eine Kette von Ereignissen aus.

Auch "ein Sohn der Stadt"  ist unspektakulär aber nichtsdestotrotz einprägsam erzählt, mit einem ruhigen Tempo, das dem Rhythmus einer Kleinstadt fern der Metropolen entspricht. Doch auch hier gibt es Träume vom kleinen Glück, gibt es Ausbruchsversuche, nicht im Stillstand zu verharren. Kent zeigt den Mikrokosmos einer Kleinstadt, wo die Leute einerseits aufeinander aufpassem, andererseits aber unversöhnlich und nachtragend  sein können und in der es Außenseiter nicht leicht haben.

Ich fand "Kostbare Tage" mit seiner bittersüßen Endlichkeit das bessere Buch, doch auch "Ein Sohn der Stadt" ist ein empfehlenswertes Buch für alle, die eine ruhige Erzählweise und künstlich aufgebauschte Aufgeregtheiten genießen können.    Einmal mehr hat es Harun Kent geschafft, mit seinem Buch Bilder im Kopf zu zeichnen von Enge und Weite gleichermaßen.


Kent Harun, Ein Sohn der Stadt

Diogenes 2021

256 Seiten, 20,99 Euro

 978-3-257-61197-7

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