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Es werden Posts vom März, 2020 angezeigt.

Literarischer Tribut an das Leid der Chibok-Girls - "Das Mädchen"

Schon der erste Satz zieht den Leser in eine dunkle Welt: "Ich war ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr", beginnt Edna O´Briens Roman "Das Mädchen" über die Geschichte einer nigerianischen Schülerin, die zusammen mit ihren Mitschülerinnen von Kämpfern der islamistischen Miliz Boko Haram aus dem Schlafsaal ihrer Schule entführt, in den Dschungel verschleppt und versklavt wurde. Maryam, die Ich-Erzählerin, wird in der Gefangenschaft immer wieder vergewaltigt und schließlich mit einem der Kämpfer verheiratet. O´Brien, die im Alter von 88 Jahren zweimal in Nigeria für ihren Roman recherchierte, schreibt ohne Larmoyanz, ohne Sensationsheischerei und ohne Voyeurismus über das Schicksal Maryams und ihrer Gefährtinnen. Auch ohne die Gewalt und den Missbrauch plakativ zu schildern, findet sie eindringliche Worte über das Leid der Mädchen, die "stumm wie Leichen" die Gewalt der Männer über sich ergehen lassen müssen.: "Aus den Zellen ringsum tödliches Schw

Detektivische Zeitreise und mystische Rätsel - "Das Derwischtor"

Eine Versicherungsinspektorin wird von ihrem Büro in Großbritannien in die Türkei geschickt - ehe für einen Hotelbrand eine Millionensumme gezahlt wird, soll Karen Greenwood klarstellen, dass ein Betrugsversuch ausgeschlossen werden kann. So weit die Ausgangslage von Ahmet Ümits Kriminalroman "Das Derwischtor", der so viel mehr als die Genre-Zuordnung auf dem Buchcover ist. Denn von einem klassischen Krimi ist dieses Buch weit entfernt. Statt dessen führt es den Leser in die mystische Welt der Derwische, wird zu einer detektivischen Zeitreise durch die Jahrhunderte und hält für die eigentlich nüchtern-britische Versicherungsfrau einige Überraschungen und übersinnlich Irritationen bereit. Zugleich ist die Reise nach Konya für Karen eine Rückkehr in die eigene, im Alltag verdrängte Vergangenheit. Hier war die Tochter einer englischen Mutter und eines türkischen Vaters als Kind, auch wenn sie nur schwammige Erinnerungen an den damaligen Besuch hat. Hier lernten sich ihre Elter

Frauenschicksale und Frauenrechte als Lightversion - "Das Haus der Frauen"

Die Anwaltskarriere der Pariser Juristin Soléne erfährt einen dramatischen Stopp, als sich einer ihrer Mandanten vor ihren Augen nach seiner Verurteilung in den Tod stürzt. Die Juristin aus großbürgerlicher Familie erleidet einen Zusammenbruch. Das traumatische Erlebnis hat einen Burn-Out ausgelöst, aus dem  sich die Hauptfigur in Laetitia Colombanis Roman „Das Haus der Frauen“ erst wieder ins Leben zurücktasten muss. Ihr Psychiater empfiehlt ehrenamtliches Engagement, um überhaupt wieder unter Menschen zu kommen. Als Soléne die Ausschreibung für eine „öffentliche Schreiberin“ sieht, glaubt sie zunächst, hier gehe es um Schriftsätze für Behörden. Statt dessen findet sie sich im einst von der Heilsarmee eingerichteten „Palast der Frauen“ wieder.  Es ist ihre erste Begegnung mit dem Präkariat, mit Frauen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, die drogensüchtig sind, jahrelang auf der Straße gelebt haben oder als Flüchtlinge aus Afrika die gefährliche Reise über das Meer au

Us and them - Episoden aus Brexit-Country

Fernsehjournalisten auf internationalen Korrespondentenplätzen haben gegenüber ihren schreibenden Kollegen einen ganz großen Vorteil: Wenn sie, meist im Anschluss an ihren Aufenthalt, ihre Erlebnisse und Erfahrungen in einem Buch recyceln, ist die Suche nach einem Verlag - und die Akzeptanz bei Lesern - in der Regel kein großes Problem. Immerhin sind ihre Gesichter aus dem Fernsehen vertraut - und das schafft Vertrauen für die Rolle des Verstehers und Erklärers. Kein Wunder also, dass es so viele Bücher von Fernsehjournalisten gibt. Darunter eben auch "London Calling" von Anette Dittert, zwischen zwei Korrespondenten-Einsätzen in London, der für sie "schönsten Stadt der Welt" .  Das ursprünglich 2017 geschriebene Buch wurde jetzt, wo der Brexis Wirklichkeit geworden ist, noch einmal überarbeitet herausgegeben, Die Liebe zu London, zu ihrem Kanalboot "Emilia" und zu ihren Nachbarn, die teils auf das Schönste britische Exzentrik verkörpern, ist beim Lese

Rassismus als Alltag - "Darktown" ist mehr als nur ein Krimi

Eine junge Frau wird tot, ermordet, auf einem vermüllten Grundstück gesehen, Die Polizisten, die zum Tatort gerufen werden, erkennen die Tote - erst kurz zuvor hatten sie sie, offensichtlich misshandelt, im Wagen eines Mannes sitzen sehen, den sie bei einem Umfall kontrollierten. So weit klingt vieles nach einem ganz normalen Detektivroman, in dem nun die Ermittlungen ihren Anfang nehmen müssen und der Leser  zur zusätzlichen Spannung auf ein paar falsche Spuren geführt wird. Doch "Darktown" von Thomas Mullen spielt im Atlanta des Jahres 1948, und die Polizisten gehören der kleinen, erst vor kuzem gegründeten Gruppe der sogenenannten "Negro Polizisten" an, die in den von Schwarzen bewohnten Stadtvierteln, eben in Darktown, Dienst tun - unter der Führung eines weißen Offiziers. Segregation ist noch höchst lebendig und Rassismus ist Alltag.  Die acht schwarzen Polizisten wissen - auf ihnen ruhen die Augen der gesamten Community, teils argwöhnisch, teils voller Hoffn

Flüchtlings- und Liebesgeschichte voller Poesie - "Exit West"

Die Heimatstadt von Saaed und Nadia könnte Kabul undte den Taliban sein, Somalia unter Al-Shabaab, Mossul unter dem IS oder Beirut während des Bürgerkriegs. Weder das Land noch die Stadt des jungen Paares in Mohsin Hamids Roman "Exit West" haben einen Namen, denn die Geschichte ist unversell. Und es sind auch nur die Namen und die Beschreibungen, die ein arabisch-islamisches Land nahe legen. Theoretisch könnten Saaed und Nadia überall auf der Welt leben, wo Krieg und Fundamentalismus die Freiheit und das Leben von Menschen einschränken. Es ist eine geradezu schüchtern-zurückhaltende Liebesgeschichte in Zeiten des Krieges, der so ungedeihlich für menschliche Nähe ist. Der ein wenig schüchterne Saaed, einziges Kind schon älterer Eltern, und die trotz ihres schwarzen Gewandes lebensfrohe und gar nicht religiöse Nadia kommen sich näher, während um sie herum die Welt in Gewalt versinkt. Auch Saaeds Mutter stirbt bei einer Bombenexplosion, eines der zivilen Zufallsopfer so vieler

Warnung aus dem Weißen Haus - Abrechnung mit Trump

Wirklich überraschend kommt das Urteil des anonym bleibenden Autoren und Regierungsberater für politisch interessierte Leser nicht: Donald Trump sei unberechenbar, intellektuell eher schwach ausgeprägt, narzisstisch, ein typischer Bully und in seiner Rolle als Präsident nicht gerade qualifiziert. So what? frage ich mich bei dieser Schlussfolgerung, die eigentlich schon in Trumps Wahlkampf nahe lag. Seine Antrittsrede ließ dann bereits Schlimmes befürchten - und ist irgendeine der schon damals von vielen geäußerten Sorgen nicht eingetreten? Der anonyme Autor ist da offenbar noch viel näher dran und kann weitaus mehr verfolgen, als die Weltöffentlichkeit, die angesichts präsidialer Tweets und eben eher unpräsidialer Auftritte nur staunen und ziemlich oft auch nur schaudern kann. Und: Anonymus ist Republikaner, stellt sich als patriotischen, konservativen Amerikaner dar, als einen, der versprochen hat, seinem Land und seinem Präsidenten zu dienen. Beides zusammen ist offenbar eine zieml

Leider aktueller denn je - "Hasskrieger"

Beim Schreiben an ihrem Buch "Hasskrieger" wurde Karolin Schwarz von den aktuellen Ereignissen ein-, ja überholt: Der Terroraschlag von Christchurch auf betende Menschen in einer Moschee war ursprünglich einer der Auslöser für ihr Buch über den neuen globalen Rechtsextremismus gewesen. Während die freie Journalistin und Faktencheckerin noch an dem Text arbeitete, kam es zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Wlter Lübcke und dem Anschlag von Halle. Wenige Wochen nach der Veröffetlichung reiht sich nun der Anschlag von Hanau ein in die Serie rechtsextremer und rassistischer Gewalt in Deutschland und in der Welt. "Hasskrieger" ist - leider - aktueller denn je. Anders als das erst vor wenigen Monaten im gleichen Verlag herausgegebene Buch "Extreme Sicherheit" über Rechtsextreminsmus oin Polizei, Bundeswehr oder Justiz geht es hier weniger um regionale oder beerufliche Hintergründe, sondern die Vernetzung und das Netz, die Instrumentalisierung sozial

Gegen das Vergessen - "Rote Kreuze"

Von der Sowjetunion und ihren schlimmsten Phasen während des Stalinismus hat Sasha Filipenko nicht viel mitbekommen. Der weißrussische Autor wurde 1984 geboren. Seine Kindheit fiel in die Zeit von Glasnost und Perestroika, seine Jugend in den Zerfall der UdSSR. Sein Buch "Rote Kreuze" ist dennoch eine literarische Reise in die stalinistische Vergangenheit, zu den Prozessen gegen angebliche Volksfeinde, durch Folter erzwungene Geständnisse, Sippenhaft und Lagersystem. "Rote Kreuze" ist auch die Geschichte einer untypischen und anfangs ungewollten Freundschaft zwischen dem verwitweten Alexander und seiner 91-jährigen Nachbarin Tatjana, die an Alzheimer leidet. Anfangs ist Alexander vom Mitteilungsbedürfnis der alten Frau genervt, er hat genügend eigene Probleme. Die Frau, deren Kurzzeitgedächtnis bereits gelitten hat und die durch Erzählen auch die Erinnerungen an eine dramatische Vergangenheit, an ihre Toten und die Zeit des Terrors bewahren will, findet erst nach