Us and them - Episoden aus Brexit-Country

Fernsehjournalisten auf internationalen Korrespondentenplätzen haben gegenüber ihren schreibenden Kollegen einen ganz großen Vorteil: Wenn sie, meist im Anschluss an ihren Aufenthalt, ihre Erlebnisse und Erfahrungen in einem Buch recyceln, ist die Suche nach einem Verlag - und die Akzeptanz bei Lesern - in der Regel kein großes Problem. Immerhin sind ihre Gesichter aus dem Fernsehen vertraut - und das schafft Vertrauen für die Rolle des Verstehers und Erklärers. Kein Wunder also, dass es so viele Bücher von Fernsehjournalisten gibt.

Darunter eben auch "London Calling" von Anette Dittert, zwischen zwei Korrespondenten-Einsätzen in London, der für sie "schönsten Stadt der Welt" .  Das ursprünglich 2017 geschriebene Buch wurde jetzt, wo der Brexis Wirklichkeit geworden ist, noch einmal überarbeitet herausgegeben,

Die Liebe zu London, zu ihrem Kanalboot "Emilia" und zu ihren Nachbarn, die teils auf das Schönste britische Exzentrik verkörpern, ist beim Lesen unschwer zu erkennen. Doch noch etwas anderes treibt Dittert um, hat sie doch nicht nur einen Koffer, sondern gleich ein ganzes Boot an der Themse: Wie konnte es passieren, die Entscheidung für den Brexit, die aus ihr eben auch eine jener "anderen" macht, von der Wahllondonerin zur Kontinentaleuropäerin, die vor der Frage steht: Gehen oder bleiben?

Auf nicht ganz 300 Buchseiten geht es um die englische Befindlichkeit, um Einblicke in die Haltung zu Europa und der ganz besonderen britischen Identität. Und es geht natürlich um Kanalboote, um Londoner Stadtteile, um Gentrifizierung und die Vielfalt, die die Metropole prägt. Das ist unterhaltsam-episodenhaft geschrieben mit viel Liebe zu Engländern, die sie auch schon in ihre Filmreihe "London Calling" porträtiert hat.

Wer jetzt eine Analyse oder ein Erklärstück erwartet, liegt falsch - es wird, sozusagen im  launigen Plauderton erzählt,  mit einer Erzählchoreographie, die eben auch in einen filmischen Spannungsbogen passt. Und die Porträtierten sind  voll liebenswerter Exzentrik, gerne ein bißchen schräg, ein bißchen außergewöhnlich und so gut wie nie irgendein Mr Smith von nebenan. Das ist unterhaltsam und gut lesbar, aber die Alltagswelt mit ganz durchschnittlichen Londonern bleibt so eben außen vor.

Vieles, was in "London Calling" beschrieben ist, ist nicht gerade neue Erkenntnis, etwa die Liebe vieler Engländer zu Landleben und Gärtnerei, die Angewohnheit, die Welt jenseits des Kanals als etwas sehr Fremdes und Unbritisches zu sehen, einen gewissen Hang zu Nostalgie und Verklärung der Vergangenheit. Gerade für England- oder London-Fans dennoch  sicher ein guter Grund,  das Buch zu lesen, geht es doch um Vertrautes und Beliebtes.

"London Calling", das ist ein Episodenbuch aus dem Brexit-Land, voll Sympathie für die Inselbewohner und eine Liebeserklärung an London - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Anette Dittert, London Calling
Hoffmann und Campe, 2020
288 Seiten, 14 Euro
978-3-455-00692-6

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