Literarischer Tribut an das Leid der Chibok-Girls - "Das Mädchen"

Schon der erste Satz zieht den Leser in eine dunkle Welt: "Ich war ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr", beginnt Edna O´Briens Roman "Das Mädchen" über die Geschichte einer nigerianischen Schülerin, die zusammen mit ihren Mitschülerinnen von Kämpfern der islamistischen Miliz Boko Haram aus dem Schlafsaal ihrer Schule entführt, in den Dschungel verschleppt und versklavt wurde. Maryam, die Ich-Erzählerin, wird in der Gefangenschaft immer wieder vergewaltigt und schließlich mit einem der Kämpfer verheiratet.

O´Brien, die im Alter von 88 Jahren zweimal in Nigeria für ihren Roman recherchierte, schreibt ohne Larmoyanz, ohne Sensationsheischerei und ohne Voyeurismus über das Schicksal Maryams und ihrer Gefährtinnen. Auch ohne die Gewalt und den Missbrauch plakativ zu schildern, findet sie eindringliche Worte über das Leid der Mädchen, die "stumm wie Leichen" die Gewalt der Männer über sich ergehen lassen müssen.: "Aus den Zellen ringsum tödliches Schweigen. Meine Freundinnen sitzen wie ich auf dem Bett, fragen sich, ob sie noch stehen, einander ins Gesicht sehen, tapfer wirken können. Wir würden nichts sagen, nichts würden wir jemals zueinander sagen."

Maryam will keine Heldin sein, sie will überleben. In einer auswegslosen Situation wie der ihren heißt das, jeden Tag neu zu überdauern, sich nicht vollständig brechen zu lassen, das Unbeschreibliche, das Unmenschliche doch irgendwie zu ertragen. Mit ihrem Ehemann hat sie es vergleichsweise gut getroffen, bei ihm erlebt sie nicht die Brutalität der vorangegangenen Gruppenvergewaltigungen, nicht die Verachtung, auch wenn von einer Liebesbeziehung natürlich keine Rede sein kann. Traumatisch auch die Geburt ihrer Tochter, der sie wie als einzig möglichen Widerstand einen Namen verweigert. Nur Babbie nennt sie das Kind, das sie nie wollte  und das doch auch ein Teil von ihr ist.

Ein Luftangriff der Armee ist dann die Chance, auf die Maryam gehofft hat - im Chaos flieht sie mit ihrer Freundin Buki, begibt sich auf den langen und gefährlichen Marsch durch den Wald, immer in der Furcht, wieder in die Gewalt der Miliz zu geraten und hart bestraft zu werden.  Als sie es endlich bis zu einem Militärposten schafft, wird sie dort erst einmal als potentielle Selbstmordattentäterin behandelt, voller Misstrauen und Drohungen. Und auch das Wiedersehen mit ihrer Familie gerät ganz anders als erhofft. Maryam ist eine Überlebende, aber eben auch eine Gezeichnete. Für die Regierung ein Vorzeigeobjekt, den Fernsehkameras präsentiert als Beweis der eigenen Entschlossenheit im Kampf gegen den Terror, aber für die eigene Familie zugleich ein Zeichen der Schande, bringt sie doch mit ihrem Kind eine stete Erinnerung an die Männer von Boko Haram mit sich.

"Schon als sie kamen, all die Verwandten und Nachbarn, fühlte ich mich wie eine Aussätzige",  heißt es an einer Textstelle. "Hinter ihrem falschen Lächeln, ihrer falschen Überschwänglichkeit konnte ich ihre Gedanken lesen. Ich spürte ihre Bedenken und, schlimmer noch, ihre Verachtung. Ich wusste, was sie von mir dachten: Dschihadi Frau, vom Unflat des Sambisa-Waldes besudelt."

Inspiriert wurde O´Brien sicherlich vom Schicksal der sogenannten Chibok-Girls, der 2014 von Boko Haram in Nordosten Nigerias entführten Schülerinnen. Mit der Figur der Maryam zollt sie den Opfern sexueller Gewalt in Kriegen einen Tribut, voller Empathie und ohne dabei sentimental zu werden. Maryam, das Schulmädchen, wird gezwungen, sehr schnell zu einer starken Frau zu reifen.

Dabei sind die Chibok-Schülerinnen lediglich jene eine Gruppe, die bekannt wurde, an die in den Sozialen Netzwerken Prominente wie Michelle Obama erinnerten. Es gab und gibt viele solcher Mädchen in Nigeria, es gibt das ungeheure Ausmaß sexueller Gewalt etwa in den Kivu-Provinzen im Osten der Demokratischen Republik Kongo, es gibt die Zehntausenden von der Lord´s Resistance Army entführten Kinder in Uganda, dem Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik.

Und was ist mit den Kindern, die Mädchen wie Maryam zu gebären gezwungen wurden - ist da irgendwann ein Gefühl von Liebe möglich? In Norduganda lernte ich vor Jahren Mädchen und junge Frauen kennen, die ein ähnliches Schicksal wie Maryam erlitten hatten. "Während der Schwangerschaft war ich voller Hass", sagte mir eine von ihnen. Doch als das Neugeborene dann in ihren Armen lag, habe sie es doch als ihr Kind annehmen können. Maryam braucht länger, um für Babbie Muttergefühle zu entwickeln - dann aber kämpft sie wie eine Löwenmutter um ihr Kind.

 "Das Mädchen" ist ein Roman voller Dramatik und konzentriert sich auf die viel zu oft und viel zu schnell vergessenen Opfern der Kriege und Konflikte nicht nur in Nigeria, nicht nur in Afrika.  Zugleich gewährt Edna P´Brien einen Einblick in das bevölkerungsreichste Land Afrikas mit seiner ethnischen und religiösen Vielfalt, mit Priestern und Wunderheilern, Aberglauben und Fanatismus.
Bewundernswert, dass sie mit fast 90 Jahren diese tragische Geschichte mit  einen Funken Hoffnung geschrieben hat. "Das Mädchen ist eines dieser Bücher, die den Leser unmöglich gleichgültig lassen können.

Edna O´Brien, Das Mädchen
Hoffmann und Campe, 2020
256 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-455-00826-5

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