Überlegungen zu Verfassungsschutz und bürgerlichen Freiheiten

 Spätestens seit der Causa Hans Georg-Maaßen dürften auch viele Menschen, die in der Vergangenheit wenig über die Arbeit des Verfassungsschutzes und die Auswirkungen auf sich selbst nachgedacht hatten, ins Grübeln geraten sein: Der Chef des Dienstes, der verantwortlich ist für den Schutz der Verfassung und damit für das, was als freiheitlich-demokratische Grundordnung bezeichnet wird, rückte in seinen öffentlichen Äußerungen gefährlich nahe an jene heran, bei denen viele einen deutlichen Gegensatz zu den Werten sehen, die eben diese Grundordnung ausmachen. Der Chef des Verfassungsschutzes konnte keine "Hetzjagden auf Ausländer" nach einer Demo unter Teilnahme auch Rechtsextremer in Chemnitz sehen. Pressebilder, aber auch Äußerungen von Polizisten im Einsatz vor Ort, sprachen eine völlig andere Sprache..

In Ronen Steinkes Buch "Verfassungsschutz" geht es einerseits um den Fall Maaßen, der mit den Äußerungen zu den Vorkommnissen in Chemnitz ja noch lange nicht erledigt war. Mit kritischem Blick vergleicht der Autor das Bundesamt für Verfassungsschutz mit anderen Diensten der inneren Sicherheit in den Nachbarländern und zeichnet dabei so manchen deutschen Sonderweg auf. Ganz ehrlich: Auch mir war vorher nicht klar, wie weitreichend die Freiheiten des Verfassungsschutzes in der Ausspähung von Bürgern und Gruppen ist, die er für beobachtungswürdig hält. War ich naiv, davon auszugehen, dass ähnlich wie bei polizeilichen Abhörmaßnahmen stets auch ein richterlicher Beschluss vorliegen muss, ein Ermittlungsverfahren, klare Hinweise, dass es rechtlich zu rechtfertigen ist, in die Privatsphäre eines  Verdächtigen einzudringen? 

Das System der V-Leute wiederum dürfte spätestens seit allem, was über die Terrorzelle NSU bekannt wurde (und wir wissen noch lange nicht alles, wie diverse Untersuchungsausschüsse und Rechercheure erfahren mussten) , Unbehagen auslösen. Wenn der Staat ausgerechnet Szene-Mitglieder finanziert - wie kann man da sicher sein, wem deren wahre Loyalität gilt?

Die zentrale Frage des Buches ist nicht, ob Maßnahmen zum Schutz der Demokratie vor innerer Aushöhlung oder extremistischen Gruppen getroffen werden müssen - sondern wer dafür zuständig sein soll. Steinke verweist auf Beispiele in anderen Ländern, wo dies polizeiliche Zuständigkeiten sind, mit klar geregelten Befugnissen und Vorgehen. Das Verfahren in Deutschland scheint eher willkürlich zu sein, wenn etwa Anhänger der Klimaschutzbewegung ins Augenmerk der Verfassungsdienste geraten. Allein die Nachricht, hier werde beobachtet, könne legitimes deokratisches Engagement plötzlich mit Ängsten behaften, warnt Steinke. Zwar haben die Schüler und Studenten von heute vermutlich keine Ahnung mehr von den "Radikalenerlassen" früherer Jahrzehnte - aber wer seine Zukunft im Staatsdienst sieht, überlegt sich vielleicht doch, welcher Gruppe er oder sie sich anschließt, welche Demo besucht wird oder eben nicht. Und damit, so Steinke, gestalte der Verfassungsschutz durchaus Politik, ohne dafür das Mandat zu haben,

Die Forderung nach anderen Strukturen als bisher sind für mich schlüssig und nachvollziehbar. Dieses Buch hat mir wertvolle Einblicke und Denkansätze gegeben.


Ronen Steinke, Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht

Piper 2023

224 Seiten, 24 Euro

  978-3-8270-1471-9

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