Blick eines Schriftstellers auf den Bataclan-Prozess

Emmanuel Carrere hat etwas gemacht, was eigentlich gar nicht so ungewöhnlich ist, sondern für Gerichtsreporter eigentlich selbstverständlich ist - einen großen Prozess von Anfang bis Ende zu begleiten, Tag für Tag, sowohl an den Tagen spektakulärer Zeugenaussagen und der wichtigen Plädoyers, als auch in den Phasen, wo Prozessformalitäten eher für journalistische Durststrecken sorgen. Nun ist Carrere allerdings nicht Journalist, sondern Schriftsteller, der für die Zeitung "L´Observateur" einmal wöchentlich eine Kolumne vom Prozess um die islamistischen Terroranschläge vom 13. November 2015 unter anderem im Batclan geschrieben hat - auch das ein Unterschied zu Gerichtreportern, die tagesaktuell und schnell, ohne die Möglichkeit längerer Reflektion liefern müssen. 

Für seine Gerichtsreportage, die wiederum ein Ausbau dieser Kolumnen ist, geht der Autor insofern anders vor als die Nachrichtenprofis der Gerichtsberichterstattung, die die Pflicht haben, unvoreingenommen zu berichten und bestimmte Standards zu beachten, etwa (zumindest in Deutschland) aufgrund der Unschuldsvermutung selbst dann als mutmaßlichen Täter zu bezeichnen, wenn ein Geständnis und eindeutige Beweise vorliegen. Carrere hingegen geht eher subjektiv an das Thema heran, schildert seine Gefühle und Empfindungen angesichts der Tat, aber auch der Zeugenaussagen und des Prozessverlaufs.

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Ein Mammutprozess, erst recht ein Prozess um einen Terroranschlag mit seinen erheblichen Sicherheitsmaßnahmen und seiner Abschottung, führt früher oder später zu einem ganz eigenen Biotop, einer kleinen Welt, in der alles um diesen einen Fall kreist und auf den Gerichtskorridoren Beobachter und Anwälte, Nebenkläger und regelmäßige Besucher treffen und miteinander ins Gespräch kommen. Wenn es so richtig lang wird, lassen sich womöglich sogar die Staatsanwälte blicken. Nur die Richter, die ja "unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen" urteilen müssen, mischen sich grundsätzlich nie unters Prozess-Volk. 

In diesem Fall - da wird so manches Frankreich-Stereotyp gestreichelt - offenbar auch zur Fortsetzung nach der Verhandlung in einer Brasserie. Bei Journalisten gibt es dabei immer die Frage, ab wann zu viel Nähe Objektivität trübt und unprofessionell wird - erneut ist das im Fall von Carrere kein Thema.

Carrere schildert, wie er sich mit einigen der Nebenkläger anfreundet, aber auch, wie er mit den "kleinen Fischen" unter den Angeklagten durchaus Mitgefühl hat. Teils ist sein Buch ein Bericht über den Terroranschlag und seine Folgen für die Betroffenen, teils - da überwiegt dann wieder der Schriftsteller - eine Art Sehnsucht nach Katharsis, nach einer heilenden Wirkung des Verfahrens. Das Gemeinschaftsgefühl, dass im Laufe eines Verfahrens entstehen kann, gehört dazu, die Hoffnung, dass nicht nur Recht gesprochen wird, sondern auch Gerechtigkeit erfahren - und das ist dann wieder höchst subjektiv. 

Nachvollziehbar und eindringlich schreibt Carrere darüber, wie Freunde und Abgehörige der Toten mit dem Verlust weiterleben müssen, die Traumata der Überlebenden, die schwierige Frage, wie Leid in eine Summe Entschädigungsgeld übersetzt werden kann. Die Hierarchie der Opfer - ganz vorne in der Aufmerksamkeit die vom Bataclan, die Toten aus den Terassencafés schon deutlich geringer beachtet, ist ein weiteres Thema Carreres. Und auch auf die schwierige Aufgabe von Strafverteidigern, die den meistgehassten Menschen des Landes zu einem fairen Prozess verhelfen müssen und die nur allzu oft mit den Taten ihrer Mandanten identifiziert werden, geht er ein. Da geht "V13" (kurz für Vendredi 13, also Freitag den 13., dem Tag der Anschläge) dann über die reine Prozessberichterstattung hinaus und regt zum Nachdenken über die Meta-Ebene so eines Verfahrens ein.

Emmanuel Carrere, V13. Die Terroranschläge von Paris

Matthes & Seitz, 2023

275 Seiten,  25 Euro

9783751809429



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

Kinderwunsch - aber koscher!

Das Leben kommt immer dazwischen