Fluch der Schönheit?

 Kann zu viel Schönheit unglücklich machen? Fast  hat man den Eindruck in Meir Shalevs Roman "Erzähls nicht deinem Bruder" über die lange Nacht der Gespräche bei viel Feigenschnaps auf dem Balkon eines Hotelzimmers in Tel Aviv. Diese Brudernacht ist eine Tradition bei Boas, dem stämmigen  Israeli, und seinem Bruder Itamar, der als ausnehmend schöner Mann schon immer viel Beachtung fand und im Gegensatz zu seinem durchsetzungsfähigen Bruder in allem, auch in Beziehungen, eher zurückhaltend ist. Eigentlich hat er, der so ziemlich jede heterosexuelle Frau haben könnte, es in der Liebe schwer - die einzige Frau, an der ihm jemals etwas lag, hat die Beziehung beendet, während Boas es mit der ehelichen Treue, wie schon der Vater der Brüder, nicht so genau zu nehmen scheint.

Itamar lebt schon lange in den USA. Konflikte und Streit hielt er schon als Kind nicht gut aus. Für ein Leben in Israel mit seiner eher meinungsfreudigen Gesellschaft ist der sensible und extrem kurzsichtige Fitness-Experte womöglich eh nicht so recht geschaffen. In der Brudernacht muss er denn auch Boas gutmütigen Spott aushalten, als er eine zwar sexuell bereichernde, aber auch ziemlich verkorkste Liebesnacht mit einer Unbekannten beschreibt, die ihm fieserweise die Brillen weggenommen und damit in ein hilfloses Wesen von einem Mann verwandelt. Da kann sich frau ein boshaftes Grinsen beim Lesen nicht verkneifen.

Überhaupt wird ziemlich viel geredet in diesem Roman, die disfunktionale Familie wird ebenso zum Thema wie die die Gegenwart, die Liebe und der Sex sowieso.  Das zerfasert zwar mitunter, doch dranbleiben lohnt sich. Ich fand die sehr spezielle Beziehungsdynamik von Geschwistern gut aufgearbeitet und glaubwürdig - egal, wie unterschiedlich man ist, egal, wie verschieden die Lebenswege, die gemeinsamen Erinnerungen aus der Kindheit können lebenslang einen - um so mehr, wenn die Eltern nicht mehr leben und nur der jeweils andere noch den Blick in die Vergangenheit teilen kann. Geheimnisse beim Boukha und ein unzerstörbares Band zwischen Brüdern trotz allen Spotts, mit dem insbesondere Boas den schönen Itamar überzieht machen den Reiz dieses Romans aus.

Meir Shalev, Erzähls nicht deinem Bruder

Diogenes 2023

240 Seiten, 24 Euro

9783257072679


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