Überwachungsstaat und Virus

 Wer Bücher mit happy end braucht, sollte "Wuhan", den Roman des im Exil lebenden chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu nicht lesen. Wie kann es auch ein happy end geben, wenn Überwachungsstaat, Sicherheitssystem und obendrein die Corona-Pandemie in ihrer ersten dramatischen Phase in der Provinz Wuhan im Mittelpunkt stehen? Als Dokumentarroman wird das Buch eingeordnet, dazu tragen auch Zitate aus sozialen Medien und Internetforen bei, die zwar fiktiv sein mögen, mit ziemlicher Sicherheit aber ähnliche Entsprechungen in der Wirklichkeit haben.

Protagonist ist der Wissenschaftler Ai Ding, der als Gastwissenschaftler in Deutschland lebt, als in seiner Heimatstadt Wuhan die ersten Fälle der Infektionen mit dem neuen Virus auftreten. Dennoch fliegt er in die Heimat, um das chinesische Neujahrsfest mit Frau und Tochter zu verbringen. Allein, bereits die Erwähnung seines Reiseziels und Geburtsort reicht aus, um ihn gewissermaßen zum Aussätzigen zu machen. Einmal in Beijing gelandet, steht die Weiterreise unter keinem guten Stern und ist immer neuen Verzögerungen und Komplokationen ausgesetzt.

Per Skype hält Ai Ding Kontakt zu einem in Berlin lebenden Exilschriftsteller, Informationen und die noch vagen Erkenntnisse werden ausgetauscht. Das Katz und Maus-Spiel mit der Staatssicherheit beim Versuch, die Firewalls der Zensur zu überwinden, spielt eine wichtige Rolle und beim Lesen des Buches wächst der enorme Respekt vor den Menschen, die mindestens die Freiheit, oft auch ihr Leben riskieren, um Informationen zu verbreiten und Regierungspropaganda und -lügen zu entlarven.

Ai Dinga Weg zu Frau und Tochter ist nicht nur von Hindernissen, sondern auch von Verlusten gekennzeichnet. Von seinem 90-jährigen Vater kann er sich nur per Videochat verabschieden, immerhin: der alte Mann stirbt nicht an Corona. 

Wochenlang hängt Ai Ding an der Grenze zur Heimatprovinz fest. Korruption und Egoismus, aber auch Solidarität und Menschlichkeit erfährt er. Und während Ai Ding versucht, nach Wuhan zu gelangen, tritt das Virus längst seine Reise um die Welt an. Die Warnungen, die er seinem Schriftstellerfreund nach Berlin schickt, werden zunächst noch als übertrieben abgetan, doch bald ändert sich das Meinungsbild. Unterdessen sind nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch Bestattungsunternehmen und Krematorien hoffnungslos überlastet. Wer es überhaupt in Krankenhaus schafft, kann sich zwar glücklich schätzen, doch Pflegepersonal, das seit Tagen weder die Schutzkleidung gewechselt noch gegessen hat, ist hoffnungslos überfordert.

"Wuhan" zeichnet ein düsteres, beklemmendes Bild Chinas im Griff der Pandemie, die in ihrem ganzen Ausmaß nicht transparent werden darf. Teilweise erinnert der Schreibstil an eine Textkollage mit Gedichten und social Media-Kommentaren, was zum dokumentarischen Stil des Textes beiträgt. Das Ende ist nur konsequent. Ein beeindruckendes Buch.

Liao Yiwu, Wuhan  

S. Fischer 2022

352 Seiten, 24 Euro

978-3-10-397105-7

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

Kinderwunsch - aber koscher!

Das Leben kommt immer dazwischen