Lebenstraum und Trauma - "Unter uns das Meer"
Die große Freiheit auf 24 Quadratmetern, umgeben von Wind und Wellen – mit dem Kauf der Yacht Juliet hat sich der Betriebswirtschaftler Michael einen Lebenstraum erfüllt. Der Trump-Anhänger, der staatliche Einmischung ablehnt und autark sein will, kann sich an Bord des Schiffes den Wunsch von der totalen Unabhängigkeit erfüllen. Es ist auch ein Versuch, die vor dem Aus stehende Ehe zu retten.
Dabei ist Juliet, Michaels Ehefrau und Ich-Erzählerin in
Amity Gaiges Roman „Unter uns das Meer“, nur höchst zögerlich aus dem Alltag in einem
Vorortviertel im Ostküstenstaat Connecticut ausgestiegen. Sie hat keinerlei Segelerfahrung und ist
eigentlich bereits mit dem Alltag überfordert: Seit der Geburt der nun sieben
und zweieinhalb Jahre alten Kinder leidet sie unter Depressionen, ihre
Dissertation über Lyrik liegt brach, ein Kindheitstrauma und die Entfremdung
zwischen Juliet und ihrer Mutter macht es nicht einfacher. Doch dann bricht die
Familie doch in die Karibik auf – eigentlich entbehrt es nicht einer gewissen
Ironie, dass Michael, der Einwanderer ablehnt, als Langzeitsegler nun selbst zu
neuen Ufern aufbricht.
Dass auf der Reise irgendetwas gewaltig schief gegangen ist,
merkt der Leser schon nach wenigen Seiten. Denn die in einen Schrank gekauerte
Juliet hält Rückblick auf den Törn, ist
kaum mehr in der Lage, den Alltag zu bewältigen und ist mit ihren Kindern
allein. Es ist ihre Mutter, die sich nun um die täglichen kleinen Dinge
kümmert.
Die Vorbereitungen und der Verlauf der Reise wiederum
schildert das von Michael geschriebene Logbuch, das immer mehr zu einem
Tagebuch wird, in dem er Gedanken niederschreibt, die er Juliet gegenüber nicht
ausdrücken kann. Sie kann ihren Mann so noch einmal neu kennenlernen – auch wenn
es offenbar nun zu spät ist.
Die Auseinandersetzung mit Stürmen und Wellen an Bord der
Juliet finden eine Entsprechung mit dem Seelenleben Juliets. Sie muss sich
ihren Ängsten stellen, nicht nur, als sie die Juliet alleine durch einen Sturm
steuert. Zugleich verändert die Reise die Familie, ganz besonders auch die Kinder, die das neue
Leben intensiv aufnehmen, die die Begegnung mit indigenen Inselbewohnern,
Hafenstädten, anderen Seglerfamilien regelrecht aufsaugen. Gerade die siebenjährige
Sybil macht an Bord eine gewaltige Entwicklung durch.
Das Leben an Bord und an Land, Gegenwart und Vergangenheit,
werden auch typografisch voneinander abgesetzt. Mit Juliet hat Amity Gaige eine
sowohl fragile als auch starke Frauenfigur geschaffen, die sich äußeren wie inneren
Stürmen stellen muss. Vor allem die Szenen des Lebens an Bord sind voller
Farbe, gewissermaßen erfüllt vom Rauschen des Windes und dem Geschmack von Salz
auf den Lippen, wecken Fernweh (gerade in einem Jahr, in dem das Reisen und
Unterwegssein so vielen Beschränkungen unterliegt) und lassen beim Lesen mitfiebern. Nicht
wirklich überzeugend und ein wenig konfus ist lediglich der Schluss des Buches –
da hätte die Autorin besser ein paar Seiten früher den letzten Punkt gesetzt.
Amity Gaige, Unter uns das Meer,
Eichborn 2020
384 Seiten, 22 Euro
9783847900511
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