Landkarten und Fernweh - Inseln
„Die Kartierung einer Sehnsucht“ heißt das Buch „Inseln“ des schottischen Arztes und Schriftstellers Gavin Francis im Untertitel – und das ist wortwörtlich zu nehmen. Denn das Buch ist reich illustriert mit alten Landkarten, die sich mit entlegenen, oft wenig bekannten Inseln befassen. Von ungefähr kommt das nicht, denn wie Francis gleich zu Beginn des sehr persönlichen Texts erläutert, faszinierten ihn schon als Kind die Abbildungen eines alten Atlas in der Stadtbücherei.
Millenials und die ihnen folgenden Generationen können es
vermutlich gar nicht mehr nachvollziehen, was der Atlas für den Jungen bedeutet
hatte, der sein Fernweh mit dem Finger auf der Landkarte und seiner
Vorstellungskraft stillt. Schließlich wuchs Francis noch zu einer Zeit auf, als
Fernreisen bei weitem nicht so verbreitet waren und die Information selbst über
entlegene Gebiete nur einen Mausklick entfernt aus dem Internet abrufbar.
Geplant war „Inseln“ als „persönliche Reise durch Landkarten
und Inselgeschichten, durch die Segnungen und Nöte der Abgeschiedenheit“, über
die Rolle von Inseln in der kollektiven Kultur, über den möglichen Gewinn aus
der Isolation des Insellebens. Die
Corona-Pandemie habe den Ansatz seiner Überlegungen noch einmal verstärkt,
schreibt Francis: „Die Welt hat sich verändert, es ist entscheidender denn je,
die Vorzüge der Isolation zu schätzen und dennoch neue Wege zur Verbundenheit
zu finden.“
Der Autor schildert eigene Inselerlebnisse, sei es als
Naturschutzwart auf einem Leuchtturm, während eines Forschungsaufenthalts in
der Antarktis oder als Besucher isolierter Inselgemeinschaften oder der Mönche
auf dem Berg Athos. Daneben ist das Buch gespickt mit Verweisen aus der
Literatur, etwa Robinson Crusoe. Auch die medizinischen Überlegungen kommen
nicht zu kurz – ist nicht etwa die Pubertät eine wichtige Phase der
Abkapselung, in der sich Jugendliche gewissermaßen auf ihre eigene, innere
Insel zurückziehen?
Wenn von Sehnsuchtsinseln die Rede ist, denken die meisten
vermutlich erst einmal an Traumstrände in der Südsee, im Indischen Ozean und
der Karibik, an Korallenstrände und türkisblaues Meer. Doch auch wenn Francis
Reisen auf das Lamu-Archipel vor der Küste Kenias und die Inseln im Titicacasee
beschreibt – sein Focus liegt auf den einsamen, rauen, sturmumtösten Inseln des
Nordens, seien es die Hebriden und Orkney-Inseln seiner schottischen Heimat,
seien es Grönlad, die Faröer-Inseln, auf den Begegnungen mit Basstölpeln, Möwen
und anderen wilden Seevögeln. Geradezu
poetisch lesen sich seine Beschreibungen von Inselerlebnissen, als er sein Zelt
in der Nähe von Vogelkolonien aufschlägt und ganz den den Geräuschen von
Wellen, Wind und Vogelschreien hingeben kann.
„Inseln“ nimmt den Leser mit auf die Reise – nicht nur mit
Hilfe der alten Karten, sondern auch auf die Gedankenreise des Autors und die
philosophischen Überlegungen über die Kontraste zwischen Inseleinsamkeit und
pulsierenden Städten, zwischen Isolation und Verbundenheit und der Frage, ob die
Suche nach Einsamkeit nicht auch der Selbstfindung dient: „Liegt hier der ewige
Reiz von Robinson Crusoe? Dass wir alle danach dürsten, uns in der Einsamkeit
zu definieren? Dass wir davon träumen, endlich Schiffbrüchige zu sein?“
Insofern ist „Inseln“ in der erzwungenen Isolation durch die Pandemie nicht nur
eine Möglichkeit, Fernweh zu stillen, sondern auch die positiven Seiten der
Isolation zu untersuchen.
Gavin Francis, Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht.
Dumont, 2021
255 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-8321-9989-0
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