Familiengeschichte und Nahostkonflikt

 Es liegt sicher auch am Thema, dass Daniel Specks Familienroman "Jaffa Road" nahezu 700 Seiten lang geworden ist (das Lesen hat denn auch ein Weilchen gedauert, habe schließlich noch einen Fulltime-Job): Nicht nur eine generationsübergreifende Familiengeschichte, sondern auch ein an persönlichen Schicksalen erzählter Abriss des Nahostkonflikts und seiner historischen Verflechtungen. Da die Hauptfiguren deutsch, israelisch und palästinensisch sind, ist schon vorprogrammiert, dass sie sich auf zerbrechlichen Boden bewegen - umso mehr, als hier auch noch eine fremde und entfremdete Familie zusammenfinden muss. Da kommt schon mal ein epischer Roman zusammen - allerdings lesbar und auch für den fachfremden Lesern einfach zugänglich.

Teilweise knüpft "Jaffa Road" an Daniel Specks Roman "Piccola Sicilia" an, den ich allerdings nicht gelesen habe. Möglicherweise wissen die Leser des ersten Buchs mehr über die Figuren und ihre Geschichte, es ist aber kein Problem, als "Neuling" in die Handlung hineinzufinden.

Sie haben einen völlig unterschiedlichen Hintergrund, und dennoch werden sie durch einen Todesfall zusammengeführt: Nina, die deutsche Archäologin, Joelle, die französisch-israelische Sängerin und Elias, der palästinensische Arzt. Nina und Joelle wurden von einem Anwalt nach Palermo gebeten: Maurice, ein alter Mann in Palermo, hat sich in seiner Villa das Leben genommen. Für Nina war er nur unter dem Namen Moritz ein Begriff, gesehen hat sie ihn nie. Er war der stets abwesende Großvater, der Vater, nach dem sich ihre Mutter immer gesehnt hatte und der als Wehrmachtsfotograf in den 1940-er Jahren aus dem Leben seiner - wie er da noch nicht wissen konnte - schwangereren Verlobten verschwand.

Für Joelle hingegen war er der geliebte Vater Maurice Sarfati, der den Familiennamen ihrer Mutter angenommen hatte, als er zum Judentum konvertierte, der bei ihren Großeltern in Tunesien Aufnahme fand, als er vor  Kriegsende desertierte. Mit der neuen Identität und Joelles Mutter Yasmina sucht er einen neuen Anfang in Palästina, wo Holocaust-Überlebende und Zionisten gleichermaßen die Gründung eines jüdischen Staates anstrebten.

Elias, so stellt sich heraus, war nicht nur der Arzt des Toten, sondern auch dessen Ziehsohn. Und er hat einen komplett anderen Hintergrund als Joelle, seine Stiefschwester: Denn als sich für die Sarfatis und tausende jüdischer Einwanderer eine große Hoffnung erfüllte, schlug für die Palästinenser die Stunde der Katastrophe. Elias´s Mutter, kaum älter als Joelle, hatte sich als junge Frau der Sache der PLO entschieden. Elias, der in den Flüchtlingslagern des Südlibanon aufwuchs, reagiert zutiefst verbittert und ablehnend auf alles, was mit Israel zu tun hat.

Für alle drei ist es bei allen Unterschieden ein Schock, dass Maurice drei derart unterschiedliche Leben führte, dass er drei Familien hatte und ihre Existenzen unberührt voneinander ließ. Wer war er wirklich? Es ist Nina, die Archäologin, die nicht nur eine Generation weiter von Maurice aufgewachsen ist und schon mangels persönlichen Kontakts viel distanzierter mit dieser Familiengeschichte umgehen kann. Die Vergangenheit aufdecken, das hat auch mit ihrem beruflichen Ethos zu tun: "Dinge verschwinden nicht, weil niemand sie sehen will. Im Gegenteil, sie mutieren und folgen uns wie Schatten." Die Neugier treibt sie auch im Beruf an: "Schicht um Schicht in der Zeit zurückgehen. Tausende Scherben sortieren. So lange über einem Rätsel sitzen, bis die Toten zu flüstern beginnen."

Als wäre es nicht schon schwer genug, eine Verbindung oder gar Vertrauen gerade zwischen Joelle und Elias zu finden, steht plötzlich ein Verdacht im Raum: Hat Elias Maurice getötet, weil er hinter dessen Geheimnis gekommen ist? Die Familiengeschichte und der Konflikt um das Land, das von zwei Völkern beansprucht wurde, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Wenn nicht einmal zwei Geschwister es schaffen, miteinander zu sprechen - welche Chance besteht dann für ihre Völker? Nina findet ihre Rolle - sie muss diese Sprachlosigkeit durchbrechen: "In jeder Familie gibt es ein Tabu und jemanden, der den Finger in die Wunde legt."

"Jaffa Road" wechselt Orte und Zeiten - das Palermo der Gegenwart und die Vergangenheit von Maurice/Moritz, seiner Frauen und Kinder in Berlin, Tunis, Haifa, Tel Aviv und anderen Orten. Das große, historische Umfeld wird im kleinen und in den persönlichen Geschichten behandelt. Erst langsam tritt Maurice´s Geheimnis zutage. "Jaffa Road" ist keine historisch-politische Analyse, aber es ist auch mehr als ein reiner Familienroman, selbst wenn manche Einsichten und Reflektionen stark vereinfachend klingen können, wie etwa das Nachdenken darüber, was Identität eigentlich ausmacht: "Die Opfer unserer Großeltern, die Sünden unserer Eltern und das Schweigen darüber am Tisch, um den alle Versammelt waren, die Anwesenden und die Abwesenden ... und irgendwann ist es Zeit, erwachsen zu werden. Herkunft kann man sich nicht aussuchen, Zugehörigkeit schon."

 Dabei schafft es der Autor, die verschiedenen Sichtweisen nachvollziehbar und ohne Parteilichkeit zu schildern. Denn das ist ja die Tragik des seit Jahrzehnten dauernden Konflikts - jede Seite hat ihre Logik und ihre nachvollziehbaren Argumente.  Doch solange sie nicht die Bereitschaft haben, einander offen zuzuhören und zu begegnen, scheint eine Lösung, die allen gerecht wird, in weiter Ferne. In "Jaffa Road" immerhin schaffen Joelle und Elias, die ersten Schritte aufeinander zu zu gehen.


Daniel Speck, Jaffa Road

Fischer 2021

665 Seiten, 16,99

ISBN 978-3-596-70384-5

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