Antonia Baums Antihelden vom Schrottplatz

 #Belletristik #wiedergelesen

Mit ihrem zweiten Roman hat Antonia Baum eine wunderbare Anti-Heldin geschaffen, die etwas vom anarchischen Geist einer Pippi Langstrumpf hat - nur eben auf Drogen oder Alkohol. Und auf einem Schrottplatz. 

Diesmal keine Neuerscheinung - Antonia Baums Buch ist schon 2015 erschienen. Der Titel hat mich seinerzeit gleich gereizt und ich habe seinerzeit eine Rezension dazu geschrieben, Auch beim Wiederlesen ein paar Jahre später  ein Buch, das ich gerne lese.

Irgendwie sind sie die literarischen Nachkommen von Huckleberry Finn, die Geschwister Romy, Clint und Johnny, deren Geschichte Antonia Baum in ihrem zweiten Roman erzählt: Verwahrlost, aber mit Herz, anarchische Außenseiter mit einem eigenen Wertesystem und heimlicher Sehnsucht nach der so verachteten heilen Welt der anderen.

«Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren» - der Titel klingt nach rauer Großstadt-Lyrik, nach Gangsta-Rap, dabei leben die Halbwaisen immerhin im Eigenheim, das allerdings ist vermüllt, heruntergekommen und dank des Geizes von Vater Theodor immer zu kalt ist.

Theodor liebt seine Kinder wohl, aber er zeigt es ihnen viel zu selten, und das Zeug zum Vater des Jahres hat er eher nicht. Als Arzt hat er zwar einen Beruf mit hohem Sozialprestige, aber ob er auch wirklich in seiner Arztpraxis arbeitet, scheint auch für Ich-Erzählerin Romy nicht ganz klar zu sein.
Statt dessen sucht Theodor seine Freunde vorwiegend unter Kleinkriminellen und gescheiterten Existenzen, versucht zwischendurch ein Wettbüro aufzuziehen und geht seiner Vorliebe für schnelle Autos nach. «Der hätte Autos kriegen sollen, keine Kinder», klagen seine Kinder genervt, denn bei allem Außenseiter-Stolz auf das unkonventionelle Zuhause hört der Spaß auf, wenn das Jugendamt vor der Tür steht.

Die chaotische Kindheit der Geschwister wird auf wechselnden Zeitebenen erzählt ? mal aus der Sicht der neunjährigen Romy, mal aus der Perspektive der 25-jährigen, die mittlerweile Psychologie studiert, immer noch schnodderig, liebevoll und unsentimental ihre unkonventionelle Familie beschreibt, den ausufernden Drogenkonsum ihrer Brüder, die eigene Drogenhandel- und Diebstahlkarriere in zartem Alter und den Vater, der sich nie so kümmert, wie sie es sich eigentlich wünschte.

Aber noch mehr, das wird beim Lesen des so temporeichen wie verschachtelten Romans klar, sehnt sich Romy eigentlich nach der Mutter, über die nie gesprochen werden darf. Angeblich starb sie bei der Geburt der Zwillinge Romy und Clint, und sie ist die große Unbekannte im Leben des Mädchens.
Theodor, der stolz von sich behauptet, er habe sich selbst aufgezogen und von seinen Kindern das gleiche zu erwarten scheint, kann und will die Lücke nicht schließen. Die meiste Fürsorge erfahren Romy, Clint und Johnny von Sultan, dem libanesischen Kleinkriminellen, der für eine Weile so etwas wie Struktur in ihren Alltag bringt ? bis Romy beim Ladendiebstahl ertappt wird und damit eine Kettenreaktion auslöst.

All das ist manchmal wirr, mit viel Sympathie für das Geschwistertrio und vor allem Hauptfigur Romy erzählt, die sich in all dem Chaos ihrer Kindheit selber finden muss. Tough und sensibel blickt sie von außen auf die einerseits verachtete, aber auch ersehnte heilere Welt, nur um sich im nächsten Moment wieder im Mikrokosmos der Geschwister einzuigeln. Denn das sind die einzigen, denen sie trauen kann in einem Leben, bei dem der Abgrund nie weit entfernt ist.

Mit ihrem zweiten Roman hat Antonia Baum eine wunderbare Anti-Heldin geschaffen, die etwas vom anarchischen Geist einer Pippi Langstrumpf hat, nur eben auf Drogen oder Alkohol. Und die wie Huckleberry Finn am Ende ihren eigenen Weg geht, auch wenn er nicht unbedingt geradlinig verläuft.


Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren. Hoffmann und Campe, Hamburg, 400 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-455-40337-4

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