Vox - Wenn 100 Worte reichen müssen

#Literatur #Frauen #USA



Vox" ist die literarische Stimme zum "Women´s March", zur #MeToo-Debatte, zu Pussy
Riot und dem Unbehagen, dass längst überwunden geglaubte Geschlechterbilder und 
Gender-Identifikationen plötzlich zurückführen könnten in eine Gesellschaft, wie wir sie 
seit, sagen wir mal, den 50-er Jahren überwunden glaubten. In eine Gesellschaft, in der 
Frauen vor allem Ehefrauen und Mütter sein sollen, eine Gesellschaft, in der Mädchen 
buchstäblich mit der Gewisseheit aufwachsen, dass sie nichts zu sagen haben.

Jean McClellan, die Hauptfigur dieses Romans in einer womöglich nicht zu fernen 
Zukunft, war einmal Linguistin, arbeitete in einem bedeutenden wissenschaftlichen 
Projekt. Doch all das zählt nicht mehr, seit die "Reinen" das Sagen in Amerika übernahmen,
 gesteuert von einem fundamentalistischem Geistlichen, der einen unheilvollen Einfluss auf 
den US-Präsidenten ausübt. Jetzt ist Jean nur noch die Ehefrau von Patrick, Mutter von vier
 Kindern, darunter einer sechsjährigen Tochter, die zu verstummen droht. 

Denn Frauen und Mädchen in dieser gar nicht schönen neuen Welt dürfen nur noch bis zu
100 'Wörter täglich über die Lippen bringen. In der neuen Geschlechter-Apartheid besuchen
 Jungen und Mädchen unterschiedliche Schulen - denn wozu sollen Mädchen lesen, wozu 
ihren Intellekt schulen, wenn sie sowieso nur Ehefrau und Mutter sein sollen? Ein 
"Wortzähler", am Handgelenk achtet darauf, dass Frauen sich nicht zu oft zu Wort melden - 
wird das tägliche 100 Worte-Limit überschritten, sind schmerzhafte Stromschläge die 
Konsequenz.

Zugleich ist die neue Welt ein perfekter Überwachungsstaat, der alle Fluchtmöglichkeiten 
wie etwa den Gebrauch von Zeichensprache ausschließt. Für vorehelichen Sex, für 
Homosexualität gibt es Umerziehungs- und Zwangsarbeitslager.  Jean hatte die Zeichen der
Zeit verkannt, als ihre lesbische Freundin Jacko Protestmärsche organisierte. Nun muss sie
 hilflos beobachten, wie die Spaltung der Gesellschaft in der eigenen Familie Einzug hält. 
Doch dann tut sich plötzliche eine Chance auf, zumindest vorübergehend die Sprache 
wieder zu gewinnen...

Ich habe "Vox" innerhalb von 24 Stunden verschlungen - das Thema war einfach packend, 
und scheint mittlerweile längst nicht mehr überzeichnet. Ein Roman, der eine Welt schlildert,
 die es zum Glück noch nicht gibt. Aber nicht erst seit #MeToo, nicht erst seit den Berichten
 über die Entgleisungen eines Donald Trump ("Grab them by the pussy") ist das Thema, wie
 Frauen von Männern gesehen und behandelt werden, wo die "gläsernen Decken" sind und 
wo trotz aller emanzipatorischer Erfolge noch immer Abgründe zwischen den Möglichkeiten 
für Männer und Frauen stehen.  Die Charaktere sind glaubwürdig - Jean ist beileibe keine 
Kämpferin für Frauenrechte, sondern hat sich lange eingerichtet in der Haltung, dass doch 
alles nicht so schlimm sei. Es ist spannend zu lesen, wie sie plötzlich ihre bisherigen 
Entscheidungen überdenkt und die Möglichkeiten zum Widerstand nutzt - und lernt, sie 
steht nicht allein.
 

Zu viel sollte hier nicht verraten werden, aber ich finde: Ein wichtiges Thema, gar nicht so
 weit hergeholt mit Identifikationsfiguren, denen der Leser einen Ausweg aus dem Dilemma 
wünscht - und gleichzeitig fürchtet, dass ein happy end für alle ausgeschlossen ist.
 
Christina Dalcher, Vox
S. Fischer Verlage, 2018
20 Euro,
ISBN 978-3-103974072





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