Der Lauf ums Leben - "Ich war Hitlers Trauzeuge"
Bitterböse,
tieftraurig, voll makabrer Komik und schwarzem Humor – mit „Ich
war Hitlers Trauzeuge“ hat Peter Keglevic einen Roman mit
ungewöhnlicher Perspektive über die Endphase des Zweiten
Weltkriegs, über Endsiegglauben, Untergangsstimmung und das
Überleben seiner Hauptfigur Harry gegen alle Wahrscheinlichkeit
geschrieben.
Denn
Harry Freudenthal, jüngster Sohn einer Berliner Zahnarztfamilie,
wäre als Jude im April 1945 eigentlich wie schon all die Jahre zuvor
ein Todgeweihter. Jahrelang lebte er als Untergetauchter, mit
falschen Papieren, auf einer Odyssee kreuz und quer durch Europa. Er
ist der einzige, der übrig ist von seiner Familie, die sich so mit
Deutschland identifiziert hatte, dass die meisten von ihnen bis
zuletzt nicht wahrhaben wollten, dass ihre Heimat sie nicht nur
ausgestoßen hatte, sondern ihren Tod wollte – Eisernes Kreuz aus
dem Ersten Weltkrieg hin, tiefe Verwurzelung in der deutschen Musik
und Literatur her.
Wieder
einmal ist Harry den Häschern im letzten Moment entkommen, aus Wien
geflohen und mit einer Pilgergruppe unterwegs zum Jakobsweg. Doch
dann wird er erst festgenommen und dann als
Läufer für den „Tausender Lauf“ rekrutiert – zum Geburtstag
Hitlers sollen die Läufer nach tausend Kilometer Strecke in Berlin
eintreffen und der Sieger dem deutschen Diktator persönlich
gratulieren können. Harry, der jahrelang um sein Leben lief, tritt
nun unter seinem falschen Namen Paul Renner zum Lauf seines Lebens
an.
Keglevic
hätte zu Endzeit-Dramatik greifen können, aber er entschied sich
für schwarzen Humor, eine Art Schelmenroman in den Ruinen dessen,
was vom Deutschen Reich im letzten Kriegsmonat noch übrig ist. Eine
Schar von Läufern, die ständig schrumpft, angetrieben von der
resoluten Hilde, einer Mädelscharführerin, dokumentiert von einem
Reporter des „Völkischen Beobachters“ und der
Reichsfilmregisseurin Leni Riefenstahl. An jeder Etappe gibt es
Durchhalteparolen, und Bürgermeister und Parteibonzen sprechen voll
Pathos vom Endsieg.
Doch
nicht nur Harry weiß, das Ende steht bevor. Immer wieder muss die
Etappenroute geändert werden – Luftangriffe haben die Städte
zerstört, in denen die Läufer eigentlich triumphal einlaufen
sollten. Die Amerikaner nahen von hinten, die Rote Armee vom Osten
und schnell wird klar, dass die Läufer nicht so schnell sein können
wie der Vormarsch der Alliierten.
Dass
der Lauf dann doch noch bis Berlin führt, hat viel mit einem
abgeschossenen amerikanischen Fallschirmspringer zu tunn, mit der
Wettleidenschaft von General Patton und einer Eigendynamik, die
zwar zalhreiche Umwege und Verwirrungen garantiert, aber Harry immer
näher in die Höhle des Löwen bringt. Warum setzt er sich nicht ab
wie viele andere der Läufer? Sucht Sicherheit bei den amerikanischen
Truppen, gibt sich als Verfolgter des Nazi-Regimes zu erkennen? Ist
es nur das Lächeln eines BDM-Mädchens, dass ihr verzaubert hat? Die
wiederkehrenden Träume, in denen seine toten Angehörigen ihn
mahnen, ihren Auftrag zu erfüllen? Und welches Vermächtnis haben
sie ihm hinterlassen?
Auf
fast 600 Buchseiten entwickelt sich die Geschichte Harrys und seines
Lebenslaufs, mit makaber- absurden, schrecklichen, gelegentlich urkomischen
Situationen, mit Rückblicken auf Flucht und Überlebenskampf der
vorangegangenen Jahre, auf menschliche Größe und Niedertracht. Als
Leser fiebert man mit Harry und blickt auf die letzten Tage des
Dritten Reiches aus einer ganz neuen Perspektive. Das Lachen bleibt
dabei oft in der Kehle stecken. Ein Buch, das viele Leser verdient.
Peter
Keglevic
Ich
war Hitlers Trauzeuge
Penguin
Verlag, 2019
872
Seiten, 10 Euro
ISBN
978-3-328-10377-8
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