Abrechnung mit Gleichgültigkeit und Schweigen - "Deutschland schafft mich"

Man könnte Michel Abdollahi direkt als Vorzeige-Migranten bezeichnen - wenn er nicht schon längst Deutscher wäre. Wenn auch nicht von Geburt an, da war er Iraner, kam als fünfjähriger mit der Oma nach Deutschland. Seine Eltern waren angesichts des Iran-Irak-Krieges in Sorge, dass bei einem männlichen Kind und damit einem künftigen möglichen Soldaten zu einem späteren Zeitpunkt keine Ausreiseerlaubnis möglich gewesen wäre.  Inzwischen ist der studierte Jurist Abdollahi preisgekrönter Journalist, deutscher Staatsbürger und mittlerweile sehr besorgt. Denn egal wie erfolgreich, wie heimisch - für die Menschen der neuen Rechten, für diejenigen, die in Flüchtlingen eine Bedrohung sehen und in Muslimen Terroristen sieht einer wie Abdollahi nicht deutsch genug aus, um dazu zu gehören.

Mit seinem Buch "Deutschland schafft mich" hat der Journalist nun eine sehr persönliche Abrechnung mit gesellschaftlichen Entwicklungen unter dem Eindruck eines Abdriftens nach Rechts geschrieben. Ein Rechtsruck, der nicht nur an extremen Rändern stattfindet, sondern längst in den bürgerlichen Parteien angekommen ist - zum Beispiel mit dem Seehofer-Wort über den Islam als "Mutter aller Probleme".

Dass er nicht übersensibel alles persönlich nimmt und auch keine Berührungsängste beim Dialog mit Menschen hat, die völlig anders ticken, hat Abdollahi mit seiner Reportage über das Leben in einem Nazi-Dorf gemacht. Vier Wochen lang lebte er dafür in einem jener Orte, die von den Rechtsextremen als "national befreite Zonen" bezeichnet werden. Doch nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle war das wachsende Unbehagen über die Verhältnisse in Deutschland zu einem Grad der Alarmiertheit , der ein Ventil brauchte. Dabei waren zu diesem Zeitpunkt der Anschlag von Hanau  und die Wahl eine Ministerpräsidenten mit und vor allem dank der Stimmen der AfD noch Zukunft. Mit diesen Ereignissen ist dann eingetreten, was Abdollahi in seinem Text nur befürchtete.

Abdollahis Buch ist auch eine Schilderung von Lebenserfahrungen in Deutschland - von den 90-er Jahren und dem rechten Mob in Hoyerswerda und Rostock, den Toten von Mölln und Solingen: Der Hass, den wir heute sehen, hat eine Vorgeschichte. Ausführlich geht Abdollahi auf die Entwicklung seit 2015 ein, auf Pegida und "besorgte Bürger", aber auch auf das Schweigen der Mehrheit, von der er viel früher einen Aufschrei, ein klares Wort erhofft hätte.  Er will aufrütteln, aber auch Reaktionen einfordern, wenn er oder andere Menschen, die durch ihr Äußeres als "Anders" erkennbar sind, Hass und Anfeindungen ausgesetzt sind - ob im Internet oder auf der Straße. Denn eines sollte doch schon lange bekannt sein: Wer schweigt, wird mit schuldig.

Kritisch geht Abdollahi nicht nur mit der Politik um, sondern auch mit den Medien, mit den Talkshows, die Extremen und Extremisten immer wieder eine Plattform bieten,  sich dabei nur allzu leicht zum Werkzeug für diejenigen machen, die ihre Parolen in die Öffentlichkeit tragen, die viel zu oft nur über Migranten oder Muslime sprechen, aber viel zu selten mit ihnen. "Deutschland schafft mich" ist engagiert und eindringlich - und leider nur zu aktuell.

Michel Abdollahi, Deutschland schafft mich. Als ich erfuhr, dass ich doch kein Deutscher bin.
Hoffmann und Campe, 2020
256 Seiten, 18 Euro
978-3-455-00893-7

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