Zwei Frauen und ihre Toten - Schicksal

 Zeruya Shalevs Roman heißt "Schicksal", aber er könnte genausogut "Schweigen" heißen, denn ihre Protagonistinnen haben sich in ihrem Leben und in ihren Beziehungen vielleicht allzu sehr mit Schweigsamkeit, Verschweigen und Sprachlosigkeit eingerichtet. So steht die Architektin Atara vor verschlossener Tür, als sie die über 90jährige Rachel besucht, um Antworten zu finden, die sie seit ihrer Kindheit umtreiben.

Die beiden Frauen haben sich nie zuvor getroffen. Sie gehören zwei Generationen an und könnten kaum unterschiedlicher sein: Atara, fast 50, gehört zu den städtischen Intellektuellen Israels, lebt mit ihrer Patchworkfamilie in der Hafenstadt Haifa, ihre beste Freundin und Büropartnerin ist eine arabische Israelin. 

Rachel dagegen lebt in einer Siedlung in der Wüste, in den besetzten Gebieten - eine Tatsache, die immer wieder zu Streit mit ihrem ältesten Sohn führt, der die Siedlungspolitik und die Besatzung palästinensischer Gebiete strikt ablehnt. Ihr jüngerer Sohn, der einer ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft angehört, ist im Umgang mit der Mutter zwar versöhnlicher, doch die Enkelkinder zu Besuchen mitzunehmen, vermeidet er. Er will seine Kinder keiner Gefahr aussetzen auf der Fahrt in das umstrittene Dorf. Als Jugendliche gehörte Rachel, noch während der britischen Mandatszeit, der Untergrundorganisation Lechi an, beteiligte sich Anschlägen auf britische Soldaten, saß im Gefängnis. Sie empfindet noch immer Groll gegen das israelische Establishment, das die Toten der Lechi nicht ehrt, weil diese auch von anderen Untergrundorganisationen als zu radikal empfunden wurden. 

Menachem, genannt Meno, ist das verbindende Element zwischen den beiden Frauen: Rachels erster Ehemann und Ataras Vater. Von Rachel ließ er sich Knall auf Fall scheiden, verweigerte ihr sogar eine Aussprache. Rachels Söhne stammen aus der zweiten Ehe. Atara weiß nur wenig über die erste Frau ihres Vaters, doch sie versucht zu ergründen, warum ihr Vater sie so grausam behandelte, beschimpfte, an den Haaren riss. Kurz vor seinem Tod sprach er Atara mit "Rachel" an. Ist es die Ähnlichkeit Ataras mit der jungem Rachel, die die Ressentiments auslöste?

Obwohl sich ihr Mann Alex nicht gut fühlt, fährt Atara ein weiteres Mal zu Rachel. Als Alex völlig überraschend stirbt, versinkt sie in Trauer und Schuldgefühlen. Hätte sie nicht erkennen müssen, wie schlecht es ihm ging? Warum hat sie ihm nicht oft genug gesagt, was sie für ihn empfand, ließ die Ehe stattdessen in Routine und Streit erstarren?

"Schicksal" ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss - wegen der scheinbar handlungsarmen Abschnitte, in denen es nur um das Innenleben der Protagonistinnen geht. Auch sind Atara und Rachel keine Sympathieträgerinnen auf den ersten Blick. Sprachlich ist "Schicksal" großartig, Shalev schreibt kraftvoll und voller Ausdruck, verwendet Sprachbilder und Anspielungen auf biblische Traditionen - etwa wenn Rachel darüber sinnt, dass die Lechi wie der sprichwörtliche Sündenbock waren, der am Versöhungstag Yom Kippur in die Wüste gejagt wurde.

Die hitzigen Diskussionen und Streitigkeiten in den Familien Rachels und Ataras spiegeln auch die Risse und Strömungen der israelischen Gesellschaft. Auch wenn es in "Schicksal" um das Private geht, spielt so auch die Zeitgeschichte immer mit hinein. Kein leichter Roman, aber einer, der auch dem ausländischen Leser/Hörer eine Brücke ins moderne Israel baut.


Zeruya Shalev, Schicksal

Berlin-Verlag 2021

413 Seiten, 24 Euro

ISBN 978-3-8270-1186-2


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