Familienschicksal zwischen Verfolgung, Exil und Neuanfang - Rückeroberung

 Es ist eine Familiengeschichte wie aus einem Spielberg-Drama: Der aus Westfalen stammende deutsche Jude Manfred Gans durchquert unmittelbar nach der deutschen Kaputulation im Mai 1945 Deutschland und fährt in die befreite Tschechoslowakei, um dort seine Eltern im Konzentrationslager Theresienstadt zu suchen und eine Rückreise für sie zu ermöglichen. Es ist eine private Mission, in britischer Uniform und unter dem Namen Frederick Gray, den er in den vergangenen Jahren als Mitglied einer Elite-Aufklärungseinheit getragen hat, die aus Männern wie ihm zusammengesetzt war: Deutsche Juden, die sich durch Emigration in Sicherheit brachten, zum Teil über die Kindertransporte nach England verschickt wurden. Ihre Sprachkenntnisse waren nicht zuletzt für Verhöre gefangener deutscher Soldaten gefragt.

In "Rückeroberung" schildert der Dokumentarfilmer Daniel Huhn die dramatische Familiengeschichte, konnte dabei auf Zeitzeugen-Interviews und umfangreiche Archivmaterialien zurückgreifen. Er erzählt die filmreife Geschichte nah an den Protagonisten, personalizierte Zeitgeschichte eben. Das ist gleichzeitig Stärke und Schwäche des Buchs. Denn zum einen wird der Aufstieg der Nationalsozialisten, die Veränderung der Lebensbedingungen für deutsche Juden, die Erfahrung des Exils und die Zeit in der Armee ganz aus der Perspektive und Erlebniswelt von Gans und seiner Familie geschildert. Auf der anderen Seite geht damit die Distanz, die ein wissenschaftlicher oder journalistischer Text hätte, verloren, während gleichzeitig das "große Bild" der Zeit verschwimmt.  

Es ist so eben nur die Schilderung einer, nicht unbedingt typischen Familie - die Gans´sind eine Unternehmerfamilie mit familiären Verbindungen in die Niederlande, verfügen über Mittel und Kontakte, die viele der verfolgten deutschen Juden eben nicht hatten.  Die Schilderung des Systems der Konzentrationslager und der besonderen Rolle Theresienstadts bleibt eher vage, der Autor unterliegt der Versuchung, den heroischen Einsatz von "Frederick Gray" beginnend mit der Landung in der Normandie zu schildern. Die Erfahrung des Kriegs bleibt dabei ähnlich verschwommen wie die KZ-Erlebnisse der Eltern.

Gewiss, es ist ein dramatisches Familienschicksal und gut lesbar, mit Identifikationswert, aber wer Details und Tiefenschärfe sucht, ist hier nicht sonderlich gut beraten. "Rückeroberung" passt eher in die Kategorie Doku-Fiction als zu wissenschaftlichen Texten oder einem Geschichtsband. Wer aber anhand eines Einzelschicksals mehr über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die unmittelbare Nachkriegszeit erfahren möchte, wird mit "Rückeroberung"  sicher mehr angangen können.

Daniel Huhn, Rückeroberung. 

Hoffmann und Campe, 2022

284 Seiten, 22,50 Euro

9783455013191

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