Unerfüllte Erwartungen an das Leben und die Liebe

 Der Titel "Lektionen" ist doppeldeutig: Das gleichnamige Buch von Ian McEwan beginnt in einem englischen Internat in den 60-er Jahren, mit einem Klavierunterricht, der für den da noch kindlichen Protagonisten Roland Baines noch weitreichende Folgen haben wird. Doch während der Autor seiner gleichaltrigen Romanfigur ein Leben lang folgt, bis in die Corona-Pandemie, da geht es eben auch um die Lehren eines langen Menschenlebens, um das, was Roland mitnimmt und das, was bleibt, von seinen Hoffnungen, seinen Lieben, seinen Erwartungen in sich selbst und den Erwartungen, die andere in ihn gesetzt haben.

Da scheint zunächs vieles unerfüllt: Der junge Roland galt als großes Klaviertalent, doch statt einer Pianistenkarriere verdingt er sich auch noch deutlich jenseits der 70 als Klavierspieler während des afternoon tea in einem Hotel - von Musikmampfe spricht er dabei. Die literarischen und journalistischen Ambitionen münden in Kalendersprüchen und Gedichten für Grußkarten. Auch ein Profi-Tennisspieler ist er nicht geworden, hat sich jahrelang treiben lassen, heiratete schließlich Alyssa, Tochter eines Deutschen und einer Engländerin und wird von ihr verlassen, als der gemeinsame Sohn Lawrence gerade mal sieben Monate alt ist.

Plötzlich und unerwartet alleinerziehender Vater zu sein, zwingt Roland nicht nur zu Verantwortung und Struktur, er gerät auch vorübergehend in den Fokus der Polizei, die hinter dem Verschwinden Alissas ein Verbrechen vermutet. Und wer wäre da als Verdächtiger naheliegender als der Ehemann...

Das Private und das Zeitgeschichtliche liegen in dem mehr als 700 Seiten langen Roman nah beieinander. Es ist die mit Fragen und Unsicherheiten, ja existenziellen Ängsten begleitete Kuba-Krise, die den 14-jährigen Roland zum Haus seiner ehemaligen Klavierlehrerin treibt, die ihn schon drei Jahre zuvor mit einem unerewarteten Kuss verwirrte. Was folgt, ist einerseits sexuelles Erwachen und andererseits - wie ihm erst Jahrzehnte später bewusst wird - sexueller Missbrauch. Es ist nicht zuletzt diese verbotene Affäre, die ihn später dazu treibt, die Schule zu schmeißen.

Tschernobyl, der Fall der Mauer, die Thatcher Jahre, Brexit und schließlich Corona, aber auch Kriegserinnerungen aus deutscher und britischer Sicht, das Scheitern linker Träume und die Desillusionierung angesichts der Entwichlungen der Labour Party - "Lektionen" ist ein Kaleidoskp der vergangenen 70 Jahre, gespiegelt in einem Menschenleben. Roland hat Gelegenheit zu Konfrontationen mit der ehemaligen Klavierlehrerin und mit Alyssa, die als Schriftstellerin nicht nur ihren Ex weit in den Schatten stellt, sondern sich zur bedeutendsten deutschsprachigen Autorin und Nobelpreiskandidatin  entwickelt.  

Roland findet in der langjährigen Freundin Daphne eine neue Liebe, die durch Daphnes Krebserkrankung viel zu kurz andauern darf, auch wenn die Patchworkfamilie liebevoll und generationsübergreifend zusammenhält. Geheimnisse, ja Lebenslügen gibt es aber auch in der eigenen Familie über seine Eltern zu entdecken - auch hier sind "Lektionen" für Roland enthalten, die Antworten geben auf Lebensfragen. Wie McEwan das Große und das Kleine, das Private und das Zeitgeschichtliche zu einem buchstäblich epochalen Roman verwebt, das ermüdet auch bei der Länge des Buches nicht. Und angesichts der langen Entwicklung des Protagonisten ist es fast, als sei Roland am Ende ein langjähriger alter Bekannter.


Ian McEwan, Lektionen

Diogenes 2022

720 Seiten, 32 Euro

 978-3-257-07213-6


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