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Es werden Posts vom September, 2024 angezeigt.

Ausbruchsträume auf dem Dorf

 Man könnte Ewald Arenz wohl als Chronist der ländlichen Provinz und seiner Menschen zwischen Aufbruch und Tradition nennen, denn seine Bücher spielen vor allem auf dem Dorf. Ging es etwa in "Alte Sorten" um eine Außenseitergeschichte, beginnt sein neues Buch "Zwei Leben" mit einer Rückkehr: Roberta, einzige Tochter einer Bauernfamilie, kehrt nach dreijähriger Schneiderlehre in einer Textilfabrik ins Dorf zurück. Einen Beruf hat sie lernen sollen und wollen, doch ihr Platz wird auf dem Hof gesehen, den sie mal übernehmen soll. Außerdem steht gerade die Rübenernte an. Es sind die frühen 70-er Jahre, auf dem Dorf ist davon noch nichts zu merken. Doch der Ort, an dem alles so gemacht wird, liegt Roberta gewissermaßen im Blut. Wenn da nur nicht die Träume wären, Kleider zu entwerfen, solche, wie sie sie in einer wie ein Schatz gehüteten Vogue-Ausgabe aus den 1920-er Jahren gesehen hat. Roberta fühlt sich auf dem Dorf tief verwurzelt, aber ihr Sehnsuchtsort ist Paris, au...

Götter, Sterne, Lügen

 Sie haben die Namen von Göttern, aber die Realität von Juno und Jupiter ist eher irdisches Elend: Er leidet an fortgeschrittener Multipler Sklerose, die Welt des Schriftstellers ist im wesentlichen auf das Schlafzimmer mit Pflegebett zusammengeschrumpft. Sie ist Performancekünstlerin in der freien Theaterszen, sprich, ein regelmäßiges Einkommen ist eher nicht vorhanden, mal läuft es finanziell besser, mal schlechter. Neben Balletttraining und Aufführungen sowie einer wachsenden Leidenschaft für Tätowierungen werden nächtliche Chats mit Love Scammern zu Junos kleiner Flucht aus dem Alltag, ebenso wie das Nachdenken über Sterne und planetare Katastrophen. "Guten Morgen, wie geht es Dir?" von Martina Hefter ist für den Deutschen Buchpreis nominiert und hat sich ziemlich viel aufgeladen: Liebesversprechen und Lügen, Reflektionen übers Älterwerden und die etwas kühne Argumentation von afrikanischen Scammern als späte Rächer kolonialer Ausbeutung. Eine ordentliche Portion Ironie s...

Zwischen Daseinskrise und Identitätssuche

 Einst arbeitete sie an einer New Yorker Galerie, jetzt ist sie vor allem Mutter einer kleinen Tochter in Berlin, während Ehemann Sergej als Konzertpianist ständig unterwegs ist. Da wären wohl viele Frauen wie Lou ein wenig in der Sinn- und Daseinskrise. Vor allem, da die eigene Mutter ständig eine Ehekrise wittert und die Schwiegermutter - zugleich Sergejs Managerin - von Anfang an vermittelt hat, dass Lou nicht gut genug für ihren Sohn ist.  Und sozusagen on top die Frage nach Selbstdefinierung und Identität - deutsch, postsowjetisch, jüdisch? Die subtilen Vorwürfe der israelischen Verwandtschaft, dass sie ausgerechnet in Deutschland leben. Die Frage, wie man auch nichtreligiös jüdisch sein kann und was eigentlich der fünfjährigen Rosa vermitteln, benannt nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden. In "Juli, August, September" beschreibt Olga Grjasnowa die Sinnsuche ihrer Ich-Erzählerin, mal mit spitzer Ironie, mal verunsichert und verwirrt. Ein Familientreffen au...

Dekoloniale Zeitreise

 Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur und die Frage, was für wen sag- und zumutbar ist, geht es auch in "Anti-Christie", ihrem neuesten Buch, darüber aber auch um eine Zeitreise, Doktor Who, die tote Queen, Agatha Christie und die Frage, welches "Wir" gerade angesagt ist und wie inklusiv es ist. Klingt nach ziemlich viel? Ist es auch, teilweise erschien mir das mit viele popkulturellen und literarischen Zitaten versehene Buch deshalb ein wenig überfrachtet, denn so klug und unterhaltsam es auch ist, entgleiten der Autorin doch mitunter die Erzählfäden und ich möchte rufen, bitte ein bißchen das Tempo drosseln, um nicht den Anschluss zu verpassen und damit sich die einzelnen Elemente setzen können! Ich-Erzählerin Durga, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, Drehbuchautorin u...

Privileg, Prekariat und die Schönheit der Mathematik

 In ihrem Buch "Pi mal Daumen" schildert Alina Bronsky eine ungewöhnliche Freundschaft von zwei Menschen, die unterschiedlich nicht sein könnten. Oskar ist 16, hochbegabt, aber wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht ohne jegliche Antennen. Der Junge mit Adelstitel und privilegiertem Elternhaus scheint an einer Form von Autismus zu leiden, hält selbst der eigenen Familie gegenüber eine merkwürdige emotionale Distanz. Räumlich hat sich das Näheproblem schon gelöst - er wurde in einer Altstadtvilla in unmittelbarer Nähe zur Uni einquartiert. WG-Suche ist eher nicht eines seiner Probleme. Und dann setzt sich in der ersten Vorlesung ausgerechnet Moni neben ihn - 53 Jahre alt, drei Jobs gleichzeitig balancierend, während sie außerdem diverse Familienkrisen und Enkelbetreuung meistert. Mit ihrer Vorliebe für Raubtierprint, high heels und viel Make Up hält Oskar sie zunächst für prollig-peinlich, beschließt aber, ihr unter die Arme zu greifen bei den Übungszetteln, da Monika...

Kein Heideidyll

 Mit "Vom Norden rollt ein Donner" hat Markus Thielemann einen Anti-Heimatroman aus der idyllischen Heidelandschaft zwischen Celle und Uelzen  geschrieben. Der 19-jährige Jannes ist Schäfer in der dritten Generation eines Familienbetriebs, seine Eltern und sein Großvater arbeiten ebenfalls  mit den Schafen. Doch die Idylle ist gleich mehrfach getrübt. Da ist zum einen die Angst vor dem Wolf. Gerüchte schwirren, auch wenn ihn noch keiner gesehen hat. Aber alle sind sicher, auf den nahegelegenen Truppenübungsplätzen wachsen Wölfe heran, die eine Bedrohung für die Schafe der Landwirte sind. Auch Jannes ist immer nervös, wenn er mit der Herde durch die Heide zieht. Doch er spürt auch andere Ängste. Da sind zum einen die Aussetzer seines Vaters, der vergesslich wird oder manches ständig wiederholt. Sind es die gleichen Anzeichen wie bei der dementen Oma, obwohl keine Blutsverwandtschaft besteht und der Vater viel jünger ist? Und auch Jannes fürchtet um seinen Verstand, denn er...

Dialog in Zeiten der Polarisierung

 Wenn ich manche aufgeheizten Debatten - oder vielmehr wechselseitige konfrontative Monologe sehe - dann sind Paare wie Saba-Nur Cheema und Meron Mendel für viele Menschen vermutlich personifizierte Provokation. So ein Paar dürfte es aus deren Sicht vermutlich gar nicht geben: Sie ist gebürtige Frankfurterin, Muslima, Tochter pakistanischer Eltern, die vor Verfolgung in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen sind. Er ist Israeli, in einem Kibbutz in der Negev-Wüste aufgewachsen, kam zum Studium nach Deutschland und blieb. Beide arbeiteten viele Jahre an der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank zusammen, deren Direktor Mendel bis heute ist, beide sind wissenschaftlich und publizistisch tätig und veröffentlichen seit Jahren eine gemeinsame FAZ-Kolumne, deren Texte nun unter dem Titel "Muslimisch-Jüdisches Abendbrot" als Buch erschienen sind. Zeitlos sind viele der Texte auch jenseits des Tagesjournalismus, auch wenn, natürlich, die Gesellschaft und die Polarisierung seit dem 7...

Von Freundschaft und Entfremdung

 Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt und in der Fremde Fuß fassen muss. In ihrem Roman "Ich komme nicht zurück" beschreibt Rasha Khayat die Geschichte von Freundschaft und Entfremdung aus der Sicht von Hanna, die Jahrzehnte später und in der Coronapandemie zurückkehrt, weil ihre Großmutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus ist. Und auch nach deren Tod bleibt sie in der alten Wohung, gefangen in der Vergangenheit, weil die Gegenwart voller Einsamkeit ist. Während Hanna weggegangen ist, Lehrerin wurde, ist Cem geblieben. Der Kontakt zu Zeyna ging verloren, sie reist als Fotografin um die Welt. Doch immer wieder sieht Hanna Frauen, die sie an die einstige Freundin erinnern. Über Facebook und über Zeynas Vater versucht sie, Kontakt aufzunehmen, doch Zeyna will offensichtlich nichts mehr von ihr wissen, reagiert ...