Ausbruchsträume auf dem Dorf

 Man könnte Ewald Arenz wohl als Chronist der ländlichen Provinz und seiner Menschen zwischen Aufbruch und Tradition nennen, denn seine Bücher spielen vor allem auf dem Dorf. Ging es etwa in "Alte Sorten" um eine Außenseitergeschichte, beginnt sein neues Buch "Zwei Leben" mit einer Rückkehr: Roberta, einzige Tochter einer Bauernfamilie, kehrt nach dreijähriger Schneiderlehre in einer Textilfabrik ins Dorf zurück. Einen Beruf hat sie lernen sollen und wollen, doch ihr Platz wird auf dem Hof gesehen, den sie mal übernehmen soll. Außerdem steht gerade die Rübenernte an.

Es sind die frühen 70-er Jahre, auf dem Dorf ist davon noch nichts zu merken. Doch der Ort, an dem alles so gemacht wird, liegt Roberta gewissermaßen im Blut. Wenn da nur nicht die Träume wären, Kleider zu entwerfen, solche, wie sie sie in einer wie ein Schatz gehüteten Vogue-Ausgabe aus den 1920-er Jahren gesehen hat. Roberta fühlt sich auf dem Dorf tief verwurzelt, aber ihr Sehnsuchtsort ist Paris, auch wenn sie sich in die Realitäten einfügt.

Gertrud, die Frau des Dorfpfarrers, herkunftsmäßig höhere Tochter aus Hamburg, ist dem Dorf hingegen seit ihrer Ankunft vor mehr als 20 Jahren fremd geblieben. In dem Ort, in dem alle per Du sind, ist sie die Frau Pfarrer - Respektperson, aber ohne Nähe oder persönliche Kontakte. Liegt es auch an ihrer Haltung? Sind die Dorfbewohner eben doch nur "stinkende Bauern" für sie? Als ihr Bruder ihr vorschlägt, sie auf einer zweimonatigen Vortragsreise zu begleiten, ist es wie eine Flucht - nur aus dem Dorf, oder auch weg von ihrem stillen Ehemann? Sohn Willhelm, der gerade seinen Zivildienst macht, wird bald sein Studium beginnen. Was hält sie dann noch?

William ist auch ein Kindheitsfreund von Roberta. Einst waren sie und Wolfgang, der Sohn eines gewalttätigen Kleinbauern, unzertrennlich. Nachdem sie sich drei Jahre lang nicht gesehen haben, entsteht eine andere Art von Nähe. Doch wird Wilhelm nicht weggehen und das Dorfleben hinter sich lassen, und damit auch Roberta? Nur der Opa, mit gerade mal 69 Jahren als greiser Mann geltend, weiß von der heimlichen Beziehung und Robertas Aufbruchsträumen. Auf einem Hof, auf dem nie viele Worte gewechselt wurden, entsteht zwischen Großvater und Enkelin eine Nähe, denn auch der Großvater hatte einst Träume, von denen Roberta erstmals erfährt....

Arenz hat es wieder einmal geschafft, das "kleine Leben" seiner Protagonisten so zu beschreiben, dass es weder überheblich noch kitschig wirkt. Wenn er das Dorf mit seinen Geräuschen und Gerüchen, mit seinem Rhythmus voller Arbeit und wortkarger Menschen  beschreibt, fühle ich mich in das unterfränkische Dorf von Verwandten in meiner Kindheit gezogen, den Geruch in der Stallkammer und auf dem Heuboden und einen Ort, an dem die Zeit langsamer voranzuschreiten scheint. "Zwei Leben" ist heiter und traurig zugleich, nah dran an den Menschen.

Ewald Arenz, Zwei Leben

Dumont 2024

300 Seiten, 25 Euro

9783832182052


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