Karriere eines Opportunisten
Nein, einen Sympathieträger hat Yishai Sarid mit seinem Protagonisten Shai Tamus in dem Roman "Chamäleon" wirklich nicht geschaffen. Der Journalist, Vater zweier mehr oder weniger erwachsenen Kinder, hat seine besten Berufsjahre hinter sich. Für das Zeitalter der sozialen Medien und permanenten Selbstvermarktung fehlt ihm ein wenig der Biss, vor allem aber der Instinkt, sich in den Vordergrund zu drängen. Und auch seine Ausgewogenheit, sein Harmoniebedürfnis haben eine kurze Zeit der Fernsehpräsenz und damit eines gestiegenen Bekanntheitsgrads schnell wieder sinken lassen. Er fühlt sich in die mediale und gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit versinken - und das gefällt ihm gar nicht.
Dies alles ändert sich, als Shai nach einem wütenden Social Media Post die Aufmerksamkeit eines rechtspopulistischen Senders erhält. Man interessiert sich für ihn, bietet ihm eine Plattform, instrumentalisiert ihn. Immer mehr wird Shai nur Sprachrohr der Einflüsterungen eines Politfunktionär des Regierungschefs. Während alte Freunde und Nachbarn auf die Straße gehen gegen dessen Politik, verteidigt Shai sie mit immer beißenderer Polemik, nur um sich Aufmerksamkeit und mediale Präsenz zu erhalten. Auch innerhalb der eigenen Familie ist er immer isolierter.
Sarid zeigt die Karriere eines Opportunisten und Mitläufers, eines, der gegen besseres Wissen und seine alten Überzeugungen, die er immer radikaler verleugnet, sich an die Macht und die erhoffte Popularität anbiedert. Da das alles aus seiner Perspektive mit einer Mischung von Rechtfertigung und Selbstgerechtigkeit erzählt wird, wirkt dieser Charakter nur umso widerlicher.
Zugleich zeigt der Autor die Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft in politische Lager, ethnische Gruppen, Religiöse und Säkulare, ein schwarz-weiß-Denken und eine zunehmende Polarisierung, die auch in den privaten Bereich geht. Im Roman wie im wirklichen Leben wird der 7. Oktober zur Zäsur, denn Shais Tochter im Teenageralter wollte zu einem Musikfestival im Süden Israels. Erst die Ungewissheit und Todesangst um seine Tochter sind der Moment, in dem Shai innehalten und sich fragen muss, was ihm am wichtigsten ist.
Sarid erzählt eher langsam. Die Entwicklung zum Jasager, der sich instrumentalisieren lässt, geht über die israelische Gegenwart hinaus und ist überall denkbar.
Yishai Sarid, Chamäleon
Kein & Aber 2025
288 Seiten, 25 Euro
9783036950846
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