Literarische Archäologie in dystopischer Zukuft
Literarisches Rätsel, Dystopie einer vom Klimawandel gezeichneten Zukunft und komplizierte Beziehungsgeflechte - mit "Was wir wissen können" hat Ian McEwan einen faszinierenden Roman mit verschiedenen Zeit und Erzählperspektiven geschrieben. Damit überzeugt er sowohl inhaltlich als auch erzählerisch und bietet viel Stoff zum Nachdenken.
Das Buch führt in eine gerade mal knapp 90 Jahre entfernte Zukunft, doch völlig andere Welt. Die Regierungen haben die Kipppunkte ignoriert, um die Erderwärmung zu stoppen oder zumindest zu mindern. Schmelzen der Polkappen und Anstieg der Meeresspiegel sind kein Zukunftsszenario mehr, sondern die Realität einer Menschheit, in der Weiße selten geworden sind, die Menschheit besteht überwiegend aus verschiedenen Schattierungen von braun und die neue Supermacht heißt Nigeria. KIs kontrollieren einen großen Teil des Lebens und werden gerade von den jungen Menschen nicht hinterfragt.
Europa hat seine Konflikte und Kriege ebenso schlecht überwunden wie die Klimaveränderungen, die etwa Großbritannien zu einer Insellandschaft machten. Als das Meer die Küstenregionen und die dortigen Städte verschlang, ging auch viel wissen zugrunde. Bibliotheken und Hochschulen sind nunmehr in Höhenlagen angesiedelt. Mit dem Wissen gingen auch Technologien verloren. Die Welt dieser Zukunftsmenschen, ihr Bewegungsradius, sind geschrumpft. Und die Menschen sind mit dem verlorenen Wissen irgendwie dümmer geworden.
Literaturwissenschaftler Tom, der auf der Suche nach einem verschollenen Gedicht des Dichters Francis Blundy ist, muss allerhand Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, um in einer mehrere Tagesreisen mit Fähre, Seilbahn und primitivem Fahrrad entfernte Bibliothek zu erreichen ,die das Archiv von Blundys Ehefrau Vivian enthält. Die Frau, die er nie gesehen hat und die ihre eigene wissenschaftliche Karriere für Blundy aufgegeben hat, fasziniert Tom so sehr, dass seine Freundin eifersüchtig wird. Ein Gedicht, nur einmal vorgetragen und danach verschwunden, zu Vivians Geburtstag geschrieben - geht es noch romantischer?
Oder war alles ganz anders? Denn im zweiten Abschnitt des Buches kommt Vivian zu Wort. Und so manches unterscheidet sich von dem posthum gezeichneten Bild. Zu den Besonderheiten gehört es, die akademischen Klüngel von 2014 und 2119 in ihren gewaltigen Unterscheidungen zu erleben, aber auch die Unterschiede in Diskussionen, Wissenschaft und Lebensstil. Für Menschen, die in irgendeiner Weise mit dem Hochschulbetrieb zu tun haben, dürfte "was wir wissen können" deshalb einen zusätzlichen Reiz haben. Ein vielschichtiger, fulminanter Roman.
Ian McEwan, Was wir wissen können
Diogenes 2025
28 Euro
9783257073577
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