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Ein Fall, bei dem jeder verliert

 Newark könnte man wohl als die Stiefschwester New Yorks bezeichnen - die meisten Besucher kennen nur den Flughafen und fahren von dort direkt nach Manhattan. Newark ist glanzloser, unspektakulärer und in Valerie Wilson Wesleys  Roman "Todesblues" düster und mit einem Erbe der Gewalt, das vor allem für die afroamerikanische Bevölkerung seit der Zeit der Rassenunruhen in unguter Erinnerung ist. Bei dem Buch handelt es sich um eine Wiederauflage, ursprünglich hat Wesley ihren Roman wohl in den 90-ern geschrieben. Doch beim Lesen wird klar: Die Themen von Black Lives Matter, die Herausforderungen und Risiken für junge Schwarze Männer waren auch damals schon aktuell, Tamara Hayle, Ex-Polizistin, Privatdetektivin und alleinerziehende Mutter eines Teenager-Sohnes, nimmt ihren neuen Fall nur zögernd an. Eine ältere Frau will wissen, wer ihren Sohn ermordet hat. Für die Polizei hat der Fall keine hohe Priorität gehabt, vermutet sie. Denn Shawn war ein Drogendealer und Waffenschieber,

Armut prägt - Familiengeschichte eines Aufstiegskampfes

 Mit "Martha und die Ihren" hat der Schweizer Autor Lukas Hartmann sowohl eine autofiktionale Familiengeschichte geschrieben als auch ein Zeit- und Gesellschaftsbild vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1960-er Jahre gezeichnet. Inspiriert durch die Geschichte seiner Großmutter Martha schildert er den Lebensweg einer Frau, die als Achtjährige das Auseinanderbrechen ihrer Familie und das fremdbestimmte Leben als Verdingkind erlebte und sich mit Härte und Ehrgeiz aus extremer Armut in bescheidenen Wohlstand durchkämpfte. Der Tod des Vaters lässt Marthas Familie völlig mittellos zurück. Ein soziales Netz in unserem heutigen Sinne gibt es nicht. Da die Mutter außerstande ist, ihre sechs Kinder zu ernähren, verteilt die Gemeinde sie getrennt an Pflegefamilien, in denen sie für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Martha befindet sich in ihrer neuen "Familie" buchstäblich am Ende der sozialen Leiter, ist diejenige, die als Letzte etwas zu essen bekommt - und  dann meis

Geschichte einer Terrororganisation

 Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober haben sicherlich viele gerätselt: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konnten, gerade angesichts der beengten Verhältnisse auf dem Gazastreifen die Terroristen eine solches Waffenpersonal horten? Und wie konnte es sein, dass die israelischen Sicherheitsbehörden, seit Jahrzehnten geübt und erfahren in der Terrorabwehr, nicht rechtzeitig erkannt oder erfahren haben, was sich auf dem Gazastreifen zusammenbraute? Andere, für die der Nahostkonflikt immer sehr weit weg war, mögen gefragt haben: Was genau ist eigentlich die Hamas, was treibt sie an, was ist ihre Ideologie? Auf all diese Fragen gibt Joseph Croitoru in seinem Buch „Die Hamas“ Antworten – und angesichts des emotional aufgeladenen Themenkomplexes Nahost ist seine sachliche Gründlichkeit gar nicht hoch genug einzuschätzen. Für alle, die sich historischen Hintergrund und ideologisch-politische Einordnung gleichermaßen verschaffen wollen, ist dieses Buch unbedingt zu empfehl

Die Rächerin aus dem Stetl

 Emanzipationsgeschichte, Roadtrip, spannende historische Geschichte - "Fannys Rache" von Yaniv Iczkovits ist vieles und wirkt mitunter wie eine Fusion gewaltgeladener Tarrantino-Filme mit den Geschichten von Isaak Bashevi Singer. Der israelische Schriftsteller, von Haus aus eigentlich Philiosoph, schickt seine Leser*innen zusammen mit Protagonistin Fanny auf einen Parforceritt durch das zaristische Russland - etwa zur gleichen Zeit, in der "Anatevka" spielt, aber mit weniger Gesang und mehr Blut. Ein solcher Roman von einem israelischen Autor ist um so erstaunlicher, als die Stetl-Kultur und selbst das Jiddische lange bei vielen Israelis geradezu verpönt waren: Zu sehr wurde beides mit Ghetto-Dasein, Opferrollen und Hinnehmen von Gewalt und Leid in Verbindung gebracht, zu wenig passten die Bilder frommer Juden mit Schläfenlocken, Torahstudium und Schicksalsergebenheit in eine Gesellschaft, die auf Selbstbehauptung setzt und Parallelwelten der Ultraorthodoxen wie et

Erzählungen von Macht und Ohnmacht aus Simbabwe

 Als postkoloniale Erzählungen ordnet der Verlag die Reihe der von Tsitsi Dangarembga herausgegebenen Erzählungen simbabwischer Autorinnen und Autoren ein. Damit klingt das zwar hinreichend woke, ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob diese Definition die zutreffendste ist, mal abgesehen davon, dass Simbabwe eine koloniale Vergangenheit hatte, aus der es sich befreit hat. Vor allem aber geht es um Macht und Ohnmacht, um Gewalterfahrungen, die zwar in einigen Geschichten im Unabhängigkeitskampf und dem späteren System Mugabe wurzeln, in anderen aber in patriarchalen Strukturen und systematischer traditioneller Unterdrückung von Frauen. Insofern könnten sie auch in der Zeit der Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien spielen, in Syrien oder überall dort, wo archaische Strukturen Ehemännern und Vätern absolute Gewalt über Frauen zubilligen. Ziemlich harter Tobak ist der Stoff dieser Kurzgeschichten, die die literarische Umsetzung wahrer Geschehnisse sind. Im Rahmen des Projekts "Breaking the

Huckleberry Finn, von Jim erzählt

 Mit seinem Roman "James" hat Percival Everett den Klassiker "Huckleberry Finn" von Mark Twain einmal ganz neu aufgerollt: Denn hier erzählt Jim, der entlaufene Sklave, mit dem Huck seine Abenteuer auf dem Mississippi erlebt. Einige Plots sind bekannt, andere kommen ganz neu hinzu. Und natürlich: es ist ein schwarzer Blick auf die bekannt geglaubte Geschichte. Huckleberry Finn war immer die ernstere Geschichte, gegen die die Abenteuer von Tom Sawyer eben wie Lausbubenstreiche wirkten. Eine Coming of Age-Geschichte, in der auch ein durchaus kritischer Blick auf die Sklaverei geworfen wird, auch wenn Twain wegen der Verwendung des N-Worts von politisch besonders korrekten Bibliothekaren und Literaturkritikern heute als schon fragwürdig gesehen wird. Everett zeigt: Besser als Cancel Culture ist es, sich kreativ des Themas anzunehmen. Denn James, der Sklave Jim, mag in Unfreiheit geboren worden sein, aber indem er sich das Lesen und Schreiben beigebracht hat (wie, das b

Tel Aviv-Roman mit viel Lokalkolorit und einer ungewöhnlichen Protagonistin

 Ein bißchen wirkt Masi Morris, die Protagonistin in Daria Shualys Israel-Krimi "Lockvogel", wie eine israelische Cousine von Lis Salander: Sie pfeift auf die Regeln, die ihr andere aufstellen wollen, zieht ihr eigenes Ding mit eher unorthodoxen Methoden durch, hatte eine traumatische Kindheit mit reichlich Gewalterfahrung und pflegt ein sehr aktives, entschieden nichtmonogames Sexleben, wobei sie sich im Gegensatz zu Salander auf den männlichen Teil der Bevölkerung beschränkt. Andererseits, das Hacken überlässt sie lieber ihrem kleinen Cousin/Adoptivbruder. Und zu ihrem Vater, einem Polizisten, hatte sie ein sehr enges Verhältnis, nur verschwand er spurlos, als sie 14 war. Kurz darauf starben ihre Großeltern bei einem Autounfall - die Mutter wurde erschossen, als Masi zwei Jahre alt war. Dass Masi trotzdem nicht kitschig-larmoyant als Tochter aller Leiden daherkommt, liegt an Shualy, die ihre Ermittlerin so unpathetisch, cool und ähnlich einem Detektiv der schwarzen Serie da