Posts

Alles in Auflösung

 Das marode Haus, das über der Journalistin Willa und ihrer Familie zusammenzustürzen droht, ist symbolisch für die Ungewissheiten und Zerfallserscheinungen in Barbara Kingsolvers Roman "Die Unbehausten": alles ist irgendwie in Auflösung. Beruflich, Privat und Politisch. Denn Willa bekommt als Journalistin die Auswirkungen der Medienkrise zu spüren. Die einstige Zeitschriftenredakteurin muss nun als Freelancerin über die Runden kommen. Ihr Mann, ein Universitätsprofessor, hofft auch mit über 50 noch vergeblich auf eine Festanstellung. Tochter Tig, zu der Willa seit Jahren ein konfliktbeladenes Verhältnis hat, driftet scheinbar ziellos durchs Leben und ist gerade wieder in die Familie zurückgekehrt. Sohn Zeke, ehrgeiziger Harvard-Absolvent mit enormen Studienschulden, erlebt eine private Tragödie. Seine Freundin hat Suizid begangen, das gemeinsame Kind ist erst wenige Wochen alt. Zeke geht auf emotionale Distanz zu dem Baby, das in Willas Obhut kommt. Aus einem Provisorium wir...

Einsamkeit in Zeiten des Klimawandels

 Eines ist bei den Romanen von Charlotte McConnaghy garantiert: Die Natur spielt eine Hauptrolle, mit großartigen Beschreibungen von Landschaft, Flora und Fauna, mit einem aufmerksamen Blick und einer ruhigen Erzählweise. Das ist auch in ihrem neuen Buch, "Die Rettung" nicht anders.  Der Titel ist zutreffend und doch auch wieder nicht. Denn in der Tat wird die schwerverletzte Rowen nach einem Schiffbruch gerettet. Doch die einsame Insel zwischen Australien und Antarktis, auf der nur noch der verwitwete Forscher Dominic mit seinen drei Kindern lebt, ist bereits durch den Klimawandel verloren. Der Meeresspiegel steigt, der Saatbunker, in dem Saaten seltener, teils bereits ausgestorbener Pflanzen für künftige Generationen aufgelöst werden, kann nicht aufrechterhalten bleiben. Dominic betreibt die Abwicklung, nachdem die Wissenschaftlerteams die Insel bereits verlassen haben. Zwischen Pinguinen, Robben und Seeelefanten herrscht zunächst spannungsvolles Misstrauen zwischen Rowen u...

Von Familie und Familienbetrieb

 Ach, tut es gut, einen so unaufgeregten amerikanischen Roman zu lesen wie "Samstagabend im Lakeside Supper Club" von J Ryan Stradal in einer Zeit, in der aus den USA so viele schrille Töne kommen. Wobei der Supper Club, um den es geht, in Minnesota liegt, also American Heartland, dort, wo MAGA so viel stärker ist als in den Küstenmetropolen.  Die Geschichte des Familienrestaurants und  vier Generationen seiner Betreiber zieht sich durch mehrere Jahrzehnte und spiegelt auch die sich verändernde Gesellschaft wider. Die "Mom and Pop" Lokale wie der Supper Club, die einst in so vielen Kleinstädten mit Hausmannskost Mägen füllten und sozialer Ort waren, haben die Konkurrenz der Restaurantketten und Burger-Discounter häufig nicht überlebt - auch das macht dieses Buch deutlich. Stradal erzählt ruhig, bedächtig, und zeigt eine amerikanische Realität jenseits von Wolkenkratzern und Großstadtlichtern.  Vor allem geht es um vier Frauen, deren Lebensgeschichte mit dem Supper C...

Geschichte des Sklavenhandels in einem alternativen Universum

 Eigentlich stellt Bernardine Evaristo schwarze Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Romane und stellt auch durchaus Genderrollen in Frage. Ihr Buch "Blondes Herz" ist da ein bißchen anders, schreibt sie doch über den kolonialen Sklavenhandel - aber in einem alternativen Universum, in dem die Versklavten weiß und die Sklavenhändler schwarz sind. Die Menschen aus dem als barbarisch und unterentwickelt angesehenem Europa, die aus der Sicht ihrer neuen Besitzer kaum mehr als Tiere sind, werden ins kulturell zweifellos überlegene Afrika verschleppt. Die Auswüchse und Brutalität der Sklaverei hingegen sind dann wieder ganz so, wie wir sie aus den Geschichtsbüchern kennen. Die Geschichte der Kohlkopfbauerntochter Doris, die heimlich Lesen und Schreiben gelernt hat, sich nicht brechen lässt und ihren Traum von Freiheit nicht aufgibt, ist fesselnd zu lesen. Trotzdem habe ich mich beim Lesen gefragt: Was will Evaristo ihren Leser*innen hier eigentlich sagen? Hält sie sie für so ober...

Schuld und Ungleichheit

 Schuld, aber auch eine Gesellschaft voller Ungleichheit steht im Mittelpunkt von "Ungebetene Gäste" von Ayelet Gundar-Goshen, deren Roman in Israel und Nigeria spielt. Im Mittelpunkt steht die junge Mutter Naomi , die ganz auf ihren kleinen Sohn Uri fixiert ist. Als sie mit Uri von einem Spaziergang zurückkommt, findet sie in ihrer Wohnung einen arabischen Handwerker vor, der dort Renovierungsarbeiten ausführt. Naomi reagiert alarmiert, auch wenn der Mann ein harmloser Familienvater zu sein scheint. Aber er ist halt Araber! In einem unbeaufsichtigtem Moment gerät Uri auf den Balkon - und schmeißt einen Hammer runter. Unglücklicherweise trifft er einen Passanten. Es ist ein Unfall, doch die Tatsache, dass das Werkzeug einem Araber gehört, sorgt für hysterische Reaktionen - es kann doch nur ein Terroranschlag gewesen sein! Naomi schweigt, statt das Missverständnis aufzuklären. Sie schweigt auch, als der Sohn des Mannes seinen Vater abholen will und auf der Straße fast von eine...

Die Stimmen des anderen Russlands

 Bei all den fürchterlichen Berichten aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gerät es oft in Vergessenheit: Es gibt auch noch ein anderes, ein besseres Russland. Es gibt sie, die Menschen mit Zivilcourage, die Täter und Opfer beim Namen nennen und nicht an die Lüge von der Spezialoperation glauben. Und unter den Mutigen und Engagierten, die sich Wahrheit und Aufklärung verschrieben haben, sind auch die Menschen der Menschenrechtsorganisation "Memorial", schon seit mehr als 30 Jahren. "Erinnern ist Widerstand" lautet der Untertitel von "Memorial" von Irina Scherbakowa, Filipp Dzyadko und Elena Zhemkova. Das Buch ist einerseits ein Porträt der Organisation und ihrer Entstehungsgeschichte in den Jahren der Perestrojka und der mit ihr verbundenen Hoffnungen, die nun so unendlich weit weg erscheinen.  Damals, im Jahr 1989,  fanden sich ehemalige Dissidenten wie Andrej Sacharov mit Vertretern der gerade entstehenden Zivilgesellschaft zusammen, um die...

Sucht, Demenz und Lügen von einer schöneren Welt

 Poetisch und intensiv ist Ocean Vuongs Außenseiter-Roman "Der Kaiser der Freude", gleichzeitig zutiefst menschlich. Sein Protagonist ist Hai, Sohn vietnamesischer Einwanderer, pillensüchtig und lebensüberdrüssig. Für seine Mutter, die in einem Nagelstudio schuftet, hat er, nachdem er bereits das College abgebrochen hat, eine schöne Lüge erfunden: Er sei zum Medizinstudium in Boston zugelassen. Statt dessen begibt er sich in freiwilligen Entzug - und wird gleich am Tag seiner Entlassung wieder rückfällig.  Als er von einer Brücke in den Fluss springen will, bringt ihn eine alte Frau am Ufer von seinem Vorhaben ab: Grazina, 82 Jahre alt, aus Litauen und dement. Hai zieht bei ihr ein, übernimmt Pflege und Medikamentenversorgung der alten Frau, die nachts immer wieder von den Schrecken ihrer Jugend im Zweiten Weltkrieg eingeholt wird. Hai schlüpft in die Rolle des amerikanischen "Sergeant Pepper", um sie durch ihre Alpträume zu bringen. Um seinen Lebensunterhalt zu ver...