Der Osten - Andrzej Stasiuks Reise nach einem verlorenen Gefühl
#Reise #Osteuropa #Literatur #Polen
Dieses Buch ist
Ostalgie pur – und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Andrzej
Stasiuks Reiseroman “Der Osten” ist nicht nur eine Reise in den
äußersten Osten Europas und darüber hinaus, sie ist auch eine
Suche nach der nicht mehr existierenden Welt von Stasiuks Kindheit im
kommunistischen Polen, den Gerüchen und Gesichtern der ostpolnischen
Dörfer, die mittlerweile mit EU-Strukturmittels aufgehübscht
wurden, nach einem verlorenen Lebensgefühl, das in der
verwestlichten Gesellschaft mit Glitzerfassaden, Konsumtempeln und
Wolkenkratzern abhanden gekommen ist.
Doch Stasiuk, der in
seinen vorangegangenen Büchern die Welt jenseits des Karpatendorfs
Dukla beschrieben hatte, der in der Bukowina, in Galizien oder
Moldawien unterwegs war – er vermisst die ehrliche Tristesse, die
Ereignislosigkeit der von Mangel geprägten Zeiten, den
philosophischen Gleichmut, den die Menschen an den Tag legen mussten,
die sich in ihrer kleinen Welt eingerichtet hatten, weil sie ja doch
nichts ändern konnten.
Nach Russland, in
die Mongolei und bis nach China führt die Reise des Erzählers, doch
immer wieder ist auch die polnische Vergangenheit ganz vielschichtig
mit dabei. Fast trotzig zeigt er westlichen Reisezielen die kalte
Schulter, verweigert sich dem Trend, zu den Großstadtlichtern von
New york oder Paris zu reisen. Statt dessen: “Ich musste dorthin
fahren, weil das Bild einer realisierten Utopie in der Endlosigkeit
der Steppe und der erstarrten Geschichte unwiderstehliche Kraft
besaß. Schließlich hatte ich mein halbes Leben lang von asiatischen
Horden gehört, die in unser europäisches Land eingefallen waren. Es
war eine Reise in den Kern der Metapher”, schreibt Stasiuk.
Episch und
sprachgewaltig verwebt Stasiuk Kindheitserinnerungen, Kriegs- und
Nachkriegsgeschichte, Nachdenken über alte und neue
Völkerwanderungen mit seinen Beschreibungen von trostlosen
Plattenbau-Siedlungen, Steppe und Staub. Wieder einmal sucht Stasiuk
die Grenzen, die Peripherie des einstigen Imperiums, das in Moskau
oder Petrsburg schön längst sein altes Geischt verändert hatte.
Doch schließlich wollte er sehen, “wie das Land endet, das ich
seit meiner Kindheit kannte. … Es erhob sich am Horizont wie ein
hochkant gestellter Kasten, wie der Bruchteil eines Kontinents, in
die Erde gerammt wie ein Grabstein.”
Mitunter zerreißen
die Zeit- und Ortssprünge den Erzählfluss und zerhacken
Gedankenläufe. Gerade am Ende des Buches wirkt es mitunter, als
wollte der Autor nur noch zum Schluss kommen und bleibt dabei ein
wenig zusammenhanglos. Doch am stärksten ist “der Osten” dort,
wo Stasiuk Reisebericht und literarische Reportage verwebt, wo er in
kleinen Skizzen Stimmungen und Orte beschreibt, dass der Leser meint,
die Mischung aus Staub und Reinigungsmitteln der Sowjetzeit zu
riechen, die unendliche Langsamkeit des Lebens an einem Außenposten
in der Mongolei oder dem tiefsten Sibieren zu spüren.
Stasiuk nimmt seine
Leser mit auf eine Reise, wo der Weg das Ziel ist und wo sich
Vergangenheit und Gegenwart verweben. Stasiuks Sehnsuchtsorte sind
ein Zustand, ein Gefühl. Für den Leser ist es nicht nur eine
Begegnung mit dem bereisten Osten, sondern auch mit dem Warschau der
70-er und 80-er Jahre. Wer jemals den Stadtteil Praga vor seinem
Wandel zum In-Stadtteil kannte, oder den wilden Basar auf dem Gelände
des heutigen Nationalstadions kannte, wird es mit einem Gefühl der
Nostalgie lesen.
#Reise #Osteuropa #Literatur #Polen
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