"Die unbekannte Terroristin" - Stripperin unter Terrorverdacht
#Literatur #Terrorismus #Thriller #Australien
Was tun, wenn man eines Morgens aufwacht und als Terroristin gesucht wird? In Richard Flanagans Buch wird genau dieser Albtraum für die Protagonistin wahr.
Schon lange vor dem Showdown hat die «Puppe» ihr Leben verloren – ihre Vergangenheit, ihre Privatsphäre, alles ist ihr genommen, wird als Zerrbild einer sensationslüsternen Öffentlichkeit präsentiert, die nun glaubt, alles über sie zu wissen, sich ein Urteil anmasst.
Was tun, wenn man eines Morgens aufwacht und als Terroristin gesucht wird? In Richard Flanagans Buch wird genau dieser Albtraum für die Protagonistin wahr.
Gina Davies, meist nur
die «Puppe» genannt, entspricht nicht gerade der üblichen Gruppe von
Terrorverdächtigen in einer Zeit islamistischer Anschläge. Die
26-Jährige verdient sich ihren Lebensunterhalt als Stripperin, träumt
von einer schicken Eigentumswohnung, die den sozialen Aufstieg aus einem
tristen Vorstadtviertel Sydneys ebenso symbolisieren soll wie ihre
Designerkleidung und -handtaschen.
Doch
nach einem One-Night-Stand mit der Zufallsbekanntschaft Tariq muss Gina
zu ihrem Entsetzen erkennen, dass ein halbes Dutzend Sicherheitsdienste
nach ihr fahndet. Das ist die Ausgangsbasis von Richard Flanagans Roman
«Die unbekannte Terroristin», der zehn Jahre nach seiner
Erstveröffentlichung 2016 auch in deutscher Sprache erschienen ist. An
Aktualität hat das Buch des Australiers seitdem nichts eingebüsst, im Gegenteil:
In der seit den Anschlägen vom 11. September in ihrem
Sicherheitsempfinden erschütterten Gesellschaft, die mehr Sicherheit
fordert und nach Sündenböcken sucht, ist Flanagans Roman absolut auf der
Höhe der Zeit.
Bei deutschen Lesern dürften Erinnerungen an Heinrich Bölls
«Die verlorene Ehre der Katharina Blum» wach werden. Denn wie in Bölls
Titelfigur gerät auch Gina ins Ziel der Rasterfahnder – mit dem
Unterschied, dass in einer Welt der medialen Dauerpräsenz und sozialer
Medien die Jagd auf die «Puppe» schnell an Tempo gewinnt und die Frau,
die durch eine Zufallsbegegnung plötzlich als die «schwarze Witwe» oder
«Tänzerin des Todes» zum öffentlichen Feind Nummer eins wird, schnell in
eine ausweglose Situation gerät. Der Leser ahnt früh: Diese Geschichte
wird tragisch enden.
Das
Sydney, das Flanagan beschreibt, hat wenig mit der Traumstadt gemein,
die Touristen aus aller Welt anzieht. Gina Davies irrt durch eine Welt
von Strippern und Junkies, billigen Absteigen und der tristen Viertel
einer Vergangenheit, die sie hinter sich glaubt. Sie ist nicht nur auf
der Flucht vor den Fahndern, sondern auch vor einer lieblosen
Vergangenheit: «Wie konnte es sein, dass man als Mörderin jemand war in
dieser Welt, das Leben als Puppe hingegen ein einziges Sterben war? Dass
sie aus dieser Welt ausgeschlossen gewesen war und sich deswegen eine
neue hatte konstruieren müssen? Dass man keine andere Wahl hat, wenn die
Liebe nicht genug ist?»
Beim
Lesen läuft vor dem inneren Auge ein Film noir ab, musikalisch
untermalt von der Chopin-«Nocturne», die sich als Leitmotiv durch den
Roman zieht. Und wie im klassischen Film noir gibt es ausser der schönen
Frau in Bedrängnis auch den kaputten Mann, der sie zu retten versucht:
den verheirateten Drogenfahnder Nick. Der Ex-Lover von Ginas bester
Freundin versucht als Einziger, die unaufhaltsame Tragödie zu
verhindern. Er scheitert – an seinen Vorgesetzten, an der von einem
skrupellosen Journalisten geschürten Hysterie, an einer Politik, die
Feinde braucht, um Sicherheitspolitik durchzusetzen.
Schon lange vor dem Showdown hat die «Puppe» ihr Leben verloren – ihre Vergangenheit, ihre Privatsphäre, alles ist ihr genommen, wird als Zerrbild einer sensationslüsternen Öffentlichkeit präsentiert, die nun glaubt, alles über sie zu wissen, sich ein Urteil anmasst.
Während
Gina als meistgesuchte Frau des Landes in den Medien dauerpräsent ist,
ist sie zugleich die wohl einsamste Frau Australiens, unfähig, ihre
Unschuld zu beweisen – eine Unschuld, die zu diesem Zeitpunkt niemanden
mehr interessiert.
Richard
Flanagan hat ein fesselndes, wichtiges Buch geschrieben. Nicht nur
Sicherheitsdebatten der Gegenwart lassen das Gefühl zurück: Diese
Fiktion kann nur allzu leicht von der Wirklichkeit eingeholt werden.
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