Poesie und Terror - eine osttürkische Liebesgeschichte


#Weltliteratur #Belletristik #Türkei #IS


Mit „Unruhe“  hat der im Exil lebende türkische Schriftsteller Zülfü Livaneli einen Roman um Liebe, Freundschaft und die Schatten blutiger Konflikte im türkisch-syrischen Grenzgebiet geschrieben.


Es ist auch eine Geschichte über Entfremdung und zögerliche Wiederentdeckung der eigenen Wurzeln, den Zwiespalt junger türkischer Intellektueller zwischen traditionellem Orient und säkularem Westen. Ganz wunderbar ist das auch in der Sprache des Erzählers wiedergespiegelt – mal nüchterne Selbstbilanz, mal so poetisch, dass sie anknüpft an Erzählungen und Dichtungen wie aus tausendundeiner Nacht.

Ich-Erzähler Ibrahim macht sich mit gemischten Gefühlen auf den Weg in die Kleinstadt im Südosten der Türkei, in der er seine Kindheit erlebte. Er hat dort buchstäblich keine Wurzeln mehr, die Eltern sind schon lange tot. Doch bei einem der Mord- und Totschlagsfälle in der Redaktionskonferenz merkt er auf: Der Tote ist ein ehemaliger Mitschüler und Jugendfreund. Was ist passiert, was führte zum Tod von Hüseyin, der immer der stillste, schwächste und am wenigsten aggressive  der Klasse war?

Ibrahim reist zurück und die Suche nach der Geschichte Hüseyins führt ihn nicht nur zu einer komplizierten Liebesgeschichte, zu Aberglauben und Vorurteilen, sondern auch zum langen Arm der IS-Kämpfer, der bis in die Türkei reicht, zum Schicksal jener Jesidinnen, die als Sexsklavinnen in die Hände der IS-Kämpfer fielen und nun traumatisiert in Flüchtlingslagern leben, zu der einstigen kulturellen Vielfalt seiner Heimatregion, in der sich früher ganz Selbstverständlich Kurdisch, Türkisch und Arabisch mischten.

Die Spurensuche nach Hüseyin zieht Ibrahim zurück in die eigene Vergangenheit. Istanbul ist auf einmal sehr weit weg und Ibrahim wird in den Bann einer Frau gezogen, die er noch nie gesehen hat. Das hat etwas von der Poesie und der Gewalt wie einst bei Tschingis Aitmatows „Dshamila“.

Es ist eine kleine Welt, die Livaneli da beschreibt, doch die großen Konflikte, der Terror und die Gewalt haben jetzt Einzug gehalten. Der Schrecken und das Misstrauen verändern die einen – andere leben, so wie schon ihre Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt haben mochten. 
Die Unruhe, die Ibrahim antreibt, ist auch eine Innere – die wachsende Unzufriedenheit mit seinem Istanbuler Leben, mit Materialismus und Konsum, der Anonymität der Großstadt, die in scharfem Kontrast steht zu der Gastfreundschaft, die er in der Stadt seiner Kindheit erlebt. Trauer, Liebe, Sehnsucht – „Unruhe“ ist voller Gefühle, aber nicht sentimental. 

Livaneli behält seinen scharfen Blick auf die Realitäten bei. Sein Buch ermöglicht auch einen Blick in eine Welt, die viele „westliche“ Leser entweder nicht kennen oder nur unzureichend verstehen. Eines der Bücher, die zum Blick über den eigenen Horizont einladen.


Zülfu Livaneli, Unruhe
Klett-Cotta , 2018
ca 170 Seiten
ISBN 978-3-60896267-3

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

Kinderwunsch - aber koscher!

Das Leben kommt immer dazwischen