Flüchtlinge zur besten Sendezeit - "Die Hungrigen und die Satten"
Stell Dir vor, hunderttausende Flüchtlinge sind nach
Deutschland unterwegs, und das Fernsehen ist live dabei. Mit „refugee-cams“,
mit Kameradrohnen, mit einem Team von Autoren und Producern, die Dramaturgie
und gefühlige Themen in die monatelange Liveberichterstattung bringen sollen,
damit die Werbepausen weiterhin gut gefüllt sind. In „Die Hungrigen und die
Satten“ passiert genau das.
Nach „Er ist wieder da“ hat Timur Vermes ein bitterböse
Gesellschaftssatire über Migration, Medien und Politik geschrieben . Mitunter überzogen und reißerisch, dann
wieder mit einem Humor, der auch mal in der Kehle steckenbleiben kann und einem
dramatischen Finale an der deutsch-österreichischen Grenze erzählt er die Geschichte
eines Flüchtlings, der in einem der größten Flüchtlingslager der Welt in Afrika
für eine Doku-Soap gecastet wird. Eigentlich soll es dort um den Besuch des
Reality-TV-Stars Nadeche Hackenbusch gehen, die dort als „Engel des Erbarmens“
Gutes tun soll.
Für die eher unbedarfte und von den Realitäten des
Flüchtlingslagers überforderte Blondine, deren persönliche glamourzeitschriften-Autorin
den Besuch in das rechte kitschige Licht
rückt, wird der Besuch im Lager zum einschneidenden Erlebnis. Aus eher naiver Solidarität entsteht eine völlige Lebenswende, als sie sich
nicht nur in den gecasteten Flüchtlings-Guide verliebt, dem die Medien den
Namen Lionel verpassen, sondern beschließt, den findigen Mann bei der Umsetzung
seiner Idee zu begleiten: Statt einfach jahrelang im Lager zu sitzen, könne man
doch auch aufbrechen und jeden Tag 15 Kilometer laufen, überlegt er.
Lionel und Nadeche müssen nicht alleine loslaufen – 150 000
Einwohner des Lagers brechen ebenfalls
aus. Für die Lager-Mafia wird es ein einträgliches Geschäft – Wasser und Schutz
werden organisiert, jeder Teilnehmer des Marsches zahlt. Beim übertragenden
Sender steigt die Quote auf schwindelerregende Höhen, und die einzige Sorge der
Sendemacher ist, immer schöne Bilder haben („Keine Scheißhaufen“) und keine
kranken oder sterbenden Flüchtlinge zeigen.
Unterdessen sitzt nicht nur der deutsche Innenminister
beunruhigt vor dem Fernseher. Was
passiert, wenn die Flüchtlinge tatsächlich den Weg nach Europa schaffen? Wie wird die Türkei reagieren, wie die Staaten an der
EU-Außengrenze? Unterdessen wächst der Flüchtlingsstrom, denn von Jordanien bis
zum Irak schließen sich immer mehr an. 400 000 sind es, die unter maximaler
Öffentlichkeit auf dem Weg sind und während die einen gerührt vor dem
Bildschirm sitzen, formiert sich anderswo der Hass: Zulauf für AfD und Pegida,
nationalistische Bürgermilizen betreiben Aufrüstung. die Sicherheitsbehörden
diskutieren über Panzer und Schießbefehl, über Mauerbau und Elektrozäune.
Zur Satire gehört es, dass sie übertreibt, dass sie auch mal
zum Klischee greift, und all das ist hier der Fall. So unbedarft wie das
ungeheuerliche Englisch der Nadeche Hackenbusch sind die C-Promis des deutschen Privatfernsehens denn doch nicht
– oder etwa doch? Dass das Flüchtlingsdrama zur besten Sendezeit zur Steigerung
der Quote und der Werbeeinnahmen bis zuletzt ausgereizt wird, scheint dagegen
nicht aus der Luft gegriffen. Und auch die Reaktionen auf der Straße, der
Rechtsruck, die Aggressionen – die Bilder der vergangenen Wochen und Monate
sind noch präsent. Bloß weil es schon nicht so schlimm kommen dürfte, wird es
noch lange nicht gut.
Vermes verteilt seine Sticheleien und Bosheiten auf alle –
die Flüchtlinge werden ebenso wenig ausgespart wie die Medien und die
Politiker. Denn auch Lionel und seine Freunde sind nicht ohne Eigennutz oder
voller Edelmut. Die Gesetze der
Reality-Show begreifen sie sehr schnell und tragen ihr Teil dazu bei. Böse, sehr böse ist diese Satire – dabei aber
auch fast immer unterhaltsam. Und wie
jede gute Satire hält sie dem Leser den Spiegel seiner Gesellschaft vor. Ein Zerrspiegel? Manches scheint hier fast
schon möglich.
Timur Vermes, Die Hungrigen und die Satten
Eichborn Verlag, 2018
400 Seiten
9783847906605
Kommentare
Kommentar veröffentlichen