Abschottung - über Mauern und Abgrenzung

Es ist noch keine 30 Jahre her – plötzlich fiel die Berliner Mauer, das Brandenburger Tor war offen, die Scorpions besangen den “Wind of Change” und quer durch Europa fielen die Grenzzäune des Kalten Krieges. Wer zwischen den Schengen-Staaten durch Europa reist, merkt kaum noch, wann eine Staatsgrenze überschritten wurde. Grenzen und Abgrenzung – alles eine historische Altlast?

Keineswegs, denn während US-Präsident Donald Trump seine Mauer an der Grenze zu Mexiko noch nicht hochgezogen hat, stehen an vielen Stellen Grenzzäune. Ungarn, ausgerechnet das Land, das 1989 den Stacheldraht einfach ignorierte und Menschen aus der DDR die gefahrlose Ausreise in den Westen ermöglichte, hat wieder neuen Stacheldraht gegen Flüchtlinge hochgezogen, sieht sich angesichts der vor allem aus Syrien und anderen Krisenstaaten des Nahen Ostens flüchtenden muslimischen Menschen als Verteidiger des christlichen Abendlands.

Und dass es nicht mehr Mauern an anderen europäischen Grenzen gibt, hat sicher auch mit der Tatsache zu tun, das Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten erst einmal Mittelmeer und Ägais überwinden müssen. Die Festung Europa steht, das zeigt auch die Kontroverse um die “Aquarius”, den Umgang mit den Menschen der Hilfsorganisationen, die Flüchtlinge in Seenot in Sicherheit zu bringen versuchen.

Nein, die Welt des 21. Jahrhunderts ist nicht offener gewesen. Terrorfurcht und Migration haben ihre Spuren hinterlassen an den Grenzen. Wer einen Pass eines EU-Landes besitzt, bekommt davon in der Regel wenig mit. Doch an vielen Orten der Welt markieren einmal mehr Mauern und Stacheldraht Wohlstandgefälle und Machtverhältnisse. Der britische Journalist Tim Marshall hat mit seinem Buch “Abschottung. Die neue Macht der Mauern” daher ein sehr aktuelles Buch geschrieben.

Marshall nimmt seine Leser mit auf eine Weltreise – nach China und Israel, auf den indischen Subkontinent und nach Afrika, in die USA und nach Europa. Er schreibt über physische Mauern und Mauern in den Köpfen, über Mauern, die von Ängsten zeugen und die Gewalt verhindern sollen, über das Erbe von Mauern und ihren Einfluss auf Identitätsgefühl.

China etwa, das nicht nur die Große Mauer gegen die Barbaren aus der Steppe errichtete (die, wie er erläutert, eher eine psychologische denn eine militärisch effektive Barriere war), sondern das heute im Internet Mauern für seine Bürger errichtet. Die Mauern in Israel und Palästina, die für die einen Schutz und Sicherheit bedeuten, für die anderen ein Symbol von Demütigung sind. Der Stacheldraht an der Grenze zwischen Indien und Bangladesch, der auch für eine Trennung hinduistischer und muslimischer Bevölkerungsgruppen sind. Die Mauern, die in Lagos oder Johannesburg, in Nairobi oder Abidjan in den wohlhabenden Stadtteilen gegen die errichtet werden, die nichts haben. Oder die Mauern in den Köpfen von Ost- und Westdeutschen, fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Wobei das, wie Marshall im letzten Kapitel seines Buchs erläutert, doch nur ein ganz kurzer Zeitraum ist – die kulturellen Grenzen, die der römische Hadrianswall in der Gesellschaft des heutigen Großbritanniens gezogen hat, wirkten über Jahrhunderte fort bei der Entwicklung von Identität zu Zugehörigkeitsgefühl, vom schottischen oder irischen Separarismus bis hin zu der Haltung in Sachen Brexit.

Mauern, das zeigt Marshall, gibt es in vielfältiger Weise. Ein seht aktuelles Buch, das nachdenklich macht und zum weiteren Nachdenken anregt.

Tim Marshall, Abschottung. Die neue Macht der Mauern
dtv, München 2018
ca 330 Seiten
ISBN 978-3-423-28981-8


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