Fluch der bösen Tat - "das Haus der Verlassenen"

Vor ein paar Jahren machte der preisgekrönte Film “Philomena” das Schicksal lediger junger Mütter im Irland der 50-er und 60-er Jahre zum Thema, die in kirchlichen Heimen bis zur Entbindung aufgenomen wurden und ihre Kinder zur Adoption freigeben mussten. Um die berüchtigten Mütter-Kind-Heime geht es auch in Emily Gunnis´s Buch “Das Haus der Verlassenen”, in dem die englische Autorin zugleich die Brücke von ungewollt Schwangeren in den späten 50-er Jahren zu alleinerziehenden Müttern in der Gegenwart schlägt und sich mit der Frage der Suche nach eigenen Wurzeln von adoptierten Kindern auseinander setzt.

Die junge Journalistin Sam, die seit der Geburt ihrer Tochter bei ihrem Chef zu kämpfen hat, um noch anspruchsvolle Geschichten schreiben zu können, stößt in der Wohnnung ihrer Großeltern einem alten Schreibtisch auf den Brief einer verzweifelten jungen Frau an ihren Freund. Die junge Ivy ist ungewollt schwanger, ihr Freund ein vielversprechender Fußballspieler. Sie bittet ihn, zu ihr und dem Kind zu stehen, damit sie nicht in ein von Nonnen geleitetes Heim lediger Mütter muss.

Der 60 Jahre alte Brief berührt Sam – sie hofft, von ihrer Großmutter mehr über Ivy zu erfahren, doch die verweist darauf, dass Sams verstorbener Großvater, ein Antiquitätenhändler, immer wieder Briefe und andere Dokumente in Schränken und Schubladen in seine Geschäft stieß. Dennoch gibt die Großmutter Sam weitere Briefe, und die Reporterin beschließt, Ivys offensichtlich tragische Geschichte zu recherchieren. Die Zeit drängt, denn das Gebäude, in dem sich das heim befand, soll innerhalb weniger Tage abgerissen werden. Gibt es dort noch Spuren von Ivy, finden sich frühere Bewohnerinnen oder die Nonnen, die dort ein tyrannisches Regiment führten?

Und noch etwas weckt Sams Interesse: Der Pfarrer, der die Mädchen und jungen Frauen in das Heim vermittelte, wurde jahrelang vermisst, kürzlich wurde seine Leiche in einem unterirdischen Gang gefunden. Ein tragischer Unfall? Bei der gerichtlichen Untersuchung taucht auch eine erfolgreiche Talkmasterin auf – welche Verbindung hat sie zu dem Pfarrer und dem Heim? Gegen den Willen ihres Chefs und auf eigene Faust sucht Sam nach der Wahrheit, stößt auf möglicherweise mysteriöse Todesfälle unter Menschen, die mit dem Heim zu tun hatten. Von Barmherzigkeit und Nächstenliebe, das merkt sie schnell, konnte in dem Heim keine Rede sein. Lieblos, grausam und unmenschlich war der Umgang mit den jungen Müttern, die abgeschoben und de facto zu Zwangsarbeit verurteilt waren.

Die Briefe Ivys jedenfalls werden immer verzweifelten und hoffnungsloser. Doch nicht nur die Briefe, auch die Erzählebene wechselt zwischen den 50-er Jahren und der Gegenwart. Auf der Suche nach der Wahrheit ahnt Sam, dass böse Taten nicht ungestraft bleiben und auch ihre eigene Familiengeschichte mit Ivys Schicksal verbunden ist. Bis sie diesen Geheimnissen auf die Spur kommt, kommt es aber noch zu dramatischen Ereignissen.

Emily Gunnis hat in ihrem Debütroman ganz unterschiedliche Frauen portätiert und einen spannenden Plot gewählt, der für manche Überraschung gut ist. Die Szenen aus dem Heim wirken wie aus einem Charles Dickens Roman gefallen und nicht wie aus dem aufgklärten 20. Jahrhundert.
Die Wut, die den Leser packt angesichts des Umgangs mit ungewollt schwangeren jungen Frauen vor gerade mal 50 oder 60 Jahren, treibt auch Sam an. Dabei wird nachvollziehbar und realistisch beschrieben, welchen Zwängen sie selbst ausgesetzt ist, um als Alleinerziehende Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Denn auch wenn sich seit den 60-er Jahren viel getan hat bei Frauenrechten – nicht nur die #MeToo-Debatte macht deutlich, dass es noch einiges an Widerständen zu überwinden gilt. In “das Haus der Verlassenen” ist das eine Generationen übergreifende Erkenntnis. 

Lebendig und anschaulich geschrieben, ein Buch, das auch nachdenklich macht und in dem es nicht zuletzt auch um Solidarität und Konkurrenz unter Frauen geht.

Emily Gunnis,
Das Haus der Verlassenen
Heyne Verlag, 2019
ISBN 978-3-453-27212-5


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