Gehört Sachsen noch zu Deutschland? - Erklärungsversuche zur Stimmung im Osten

Die Frage auf dem Buchtitel klingt erst mal provokant: Gehört Sachsen noch zu Deutschland? Gehört das, was von Pegida-Demonstrationen bis zu starker (Wahl-)Unterstützung für die AfD, von Angriffen auf Flüchtlingsheime zu den Parolen der Neuen Rechten zu dem Grundkonsens, auf dem die Gesellschaft in Deutschland aufgebaut ist, jedenfalls bis jetzt? Abrechnung oder ein Fall von Ossi-Bashing?

Autor Frank Richter ist ein Insider: Parteiloser Politiker, Theologe, ehemaliger Direktor der Landeszentrale für politische Bildung und selbst ein Sachse, der in der DDR aufgewachsen ist. Also einer, der gute Voraussetzungen hat, Befindlichkeiten und Vorgänge zu erklären, die verschrecken, irritieren, wütend machen. Was ist los in Sachsen, dass die Parolen der Rechten auf so fruchtbaren Boden fallen?

Richter wütet nicht, er klagt nicht an, er versucht zu erklären. Wie es damals zu DDR-Zeiten war, als die Region um Dresden als Tal der Ahnungslosen galt, weil die Reichweite des West-Fernsehens nicht dorthin reichte. Die Enttäuschungen der Menschen, die mit der Parole "Wit sind das Volk" auf die Straßen gegangen waren und deren friedliche Revolution letztlich Mauer und Stacheldraht zum Einsturz brachte.

Das Gefühl, abgehängt zu werden und keine Chance im neuen vereinten Deutschland zu bekommen, wo alle wichtigen Posten in Politik, Wirtschaft und Verwaltung vor allem an West-Importe gingen. Der Frust der Arbeitslosen gerade aus der älteren Generation, die nie wieder einen Job bekamen. Die Vereinsamung der Menschen in überalternden ländlichen Regionen, deren Kinder und Enkel ihr Glück im Westen gesucht haben, während Infrastruktur und Angebote für die Menschen immer weiter abbröckeln. Die boomenden Städte Leipzig und Dresden, mahnt Richter, seien nur die eine Seite der Medaille, mahnt Richter. Im flachen Land herrsche Enttäuschung und das Gefühl, in Vergessenheit geraten zu sein.

Eine gute Ausgangslage also für Populisten, die bereit sind, den Enttäuschten zuzuhören und ihnen zu versichern, dass sie wer sind, dass sie mehr verdient haben. Zudem, da die Sachsen ein stolzes und eigensinninges Völkchen seien, ein Freistaat immerhin. Das kennt man ja von den Bayern. Diese Eigenheiten versucht Richter zu erklären, mit Sympathie für die Menschen, um Verständnis werbend. Wer sich als der "Fußabtreter der Nation" fühlt, handelt nicht immer rational. Die Sachsen verloren geben will er nicht, im Gegenteil, sein Buch ist auch ein Appell, sich der Sorgen der Menschen anzunehmen, und zwar auf Augenhöhe. Dass die Zeit drängt, macht er nicht zuletzt mit Blick auf die in diesem Jahr anstehenden Landtagswahlen deutlich.

Ein unaufgeregtes, versöhnliches Buch - als Theologe dürfte Richter daran gewohnt sein, irgendwie immer an den Sieg der besseren Idee zu glauben. Eine interessante Innensicht auf den Osten im allgemeinen und Sachsen im besonderen für Leser aus den "alten Bundesländern" ist das Buch allemal. Und der Buchtitel? Bezieht sich auf eine Episode aus Richters Jugend in der DDR, als die Familie eines Mitschülers Westbesuch erhielt. Der verfuhr sich und fragte angesichts einer Odyssee vorbei an zweisprachigen Ortsschildern im sorbischen Teil Sachsens: Gehört das noch zu Deutschland?

Frank Richter, Gehört Sachsen noch zu Deutschland? Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie
Ullstein Verlag, März 2019
128 Seiten, 14,99 Euro
ISBN-13 9783843720953


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

Kinderwunsch - aber koscher!

Das Leben kommt immer dazwischen