Rat der Gerechten - Schatten eines Pogroms und Rätsel um verschwundene Frauen
In ihrer polnischen
Heimat wird Katarzyna Bonda auch schon mal als “Königin des
Kriminalromans” gepriesen. Wer daher auf der Suche nach spannender
Unterhaltung Bondas neuen Roman “Der Rat der Gerechten” in die
Hand nimmt, könnte womöglich enttäuscht werden. Denn obwohl
Profilerin Sasza Zaluska auf der Spur eines Serienmörders in einen
ganz anderen Fall hineinstolpert, ist dieser Roman viel mehr als ein
Krimi. Es geht um Schuld und Verrat, um Geschichtsleugnung und Suche
nach Wahrheit, um Vergangenheitsbewältigung und ethnische Konflikte
in der ostpolnischen Region Podlachien, die vor dem Zweiten Weltkrieg
ein Schmelztiegel der Nationalitäten und Religionen war.
Schon die Widmung
macht klar: dieses Buch ist für die Autorin auch eine
Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und einem
blutigen Kapitel der jüngeren polnischen Vergangenheit, dessen
Aufarbeitung in den vergangenen Jahren an erneutem Aufleben von
Nationalismus zu scheitern droht.
Die Leser des “Rat
der Gerechten” müssen sich auf mehrere Zeitebenen und
Erzählstränge einlassen. Profilerin Sasza Zaluska, trockene
Alkoholikerin und alleinerziehende Mutter, versucht sich gerade an
der Wiederaufnahme in den Polizeidienst, als ein Hinweis auf einen
als “Rote Spinne” bezeichneten psychopathischen Serienmörders
sie in die ostpolnische Kleinstadt Hajnowka bringt, In der
psychiatrischen Klinik dort soll ein Mann in Behandlung sein, den sie
verdächtigt, der Täter zu sein. Er ist zudem der Vater ihrer
Tochter.
In Hajnowka kommt
Zaluska in einem Restaurant mit dem reichen Unternehmer Piotr
Bondaruk ins Gespräch. Der Mann, der in dem Ort als eine Art
polnischer Blaubart gilt, will die junge Iwona heiraten, die
altersmäßig seine Enkelin sein könnte und obendrein aus einer
nationalistischen polnischen Familie stammt – eigentlich der
komplette Gegensatz zu dem Holzfabrikanten mit weißrussischen
Wurzeln. Gleich nach der Hochzeit verschwindet sie, und die Bewohner
des kleinen Ortes rätseln: Ist sie mit ihrem früheren Freund
durchgebrannt, wurde sie entführt, oder hat der frisch angetraute
Ehemann die Finger im Spiel, dessen Partnerinnen bereits in der
Vergangengheit verschwanden? Die Tatsache, dass bei der Polizei alte
Totenschädel auftauchen, heizen die Gerüchteküche nur noch weiter
an.
Zaluska bietet der
offensichtlich überforderten und unterbesetzten Polizei
Unterstützung an, gerät aber selbst in Verdacht, möglicherweise
unlautere Motive zu haben oder gar in ein Verbrechen verwickelt zu
sein. Zudem stößt die Profilerin in der Kleinstadt auf eine Mauer
des Schweigens, ist sie doch nicht “von hier”.
In Rückblenden wird
die Geschichte Bondaruks und seiner Frauen erzählt und nur nach und
nach entwirrt sich das Beziehungsgeflecht des Ortes und die Ursache
der Spannungen zwischen Polen und Weißrussen in der Stadt. Denn
während polnische Nationalisten den antikommunistischen Partisanen
“Bury” als Helden ansehen, dem Jugendliche bei Kriegsspielen im
Wald nacheifern, ist der Mann für die Weißrussen ein Verbrecher,
verantwortlich für blutige Pogrome in den weißrussischen Dörfern
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, für Morde an Frauen und
Kindern. Auch das Dorf Zaluskie wurde damals dem Erdboden gleich
gemacht und Sasza muss sich der Frage stellen, ob hier womöglich
unbekannte Wurzeln der eigenen Familie liegen. Die Verbrechen von
damals, ein mehr als 70 Jahre zurückliegender Verrat, überschatten
die Menschen in Hajnowka bis in die Gegenwart.
Gerade diesem
Aspekt, der für Leser ohne Kenntnis der jüngeren polnischen
Geschichte schwer verständlich sein dürfte, widmet Bonda den wohl
persönlichsten Teil des Buches. Denn auch ihre Großmutter, nach der
sie benannt wurde, kam bei einem Pogrom ums Leben, wie die aus
Hajnowka stammende Bonda bei den Recherchen für das Buch herausfand.
In der Familie wurde darüber geschwiegen – offiziell ermordeten
die Deutschen in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs die
Großmutter und andere Dorfbewohner.
Mit der jahrelangen
Verschleierung dieser Verbrechen erinnert der Umgang mit den
weißrussischen Opfern polnischer Partisanengruppen in der
unmittelbaren Nachkriegszeit an das Pogrom in Jedwabne, jener
ebenfalls in Podlachien liegenden Kleinstadt. Dort waren es kurz nach
dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die jüdischen Einwohner,
die einem brutalen Verbrechen der polnischen Nachbarn zum Opfer
fielen.
In Polen erschien
“Rat der Gerechten” im Jahr 2015 – da gab es bereits
Bemühungen, Partisanenführer wie “Bury” , die unter den
Kommunisten verfolgten “verfemten Soldaten” zu patriotischen
Helden zu verklären. Unter der gegenwärtigen “historischen
Politik” der regierenden Nationalkonservativen stagnierte die
kritische Aufarbeitung von Vorfällen wie im Podlachien der
Nachkriegszeit zuletzt. Der “Rat der Gerechten” ist daher nicht
nur ein vielschichtiger, stellenweise komplizierter und etwas
überbordender Roman um Verbrechen, Hass und Liebe, sondern zeichnet
auch ein Gesellschaftsbild und erklärt eine Vergangenheit, die bis
in die Gegenwart reicht.
Katarzyna Bonda, Der Rat der Gerechten
Heyne Verlag 2019
700 Seiten, 17 Euro
ISBN 973-3-453-27075-6
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