Blauwal der Erinnerung - eine ukrainische Zeitreise

Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk wurde im Jahr 1983 geboren, ihr Roman «Blauwal der Erinnerung» liest sich hingegen stellenweise wie ein Werk der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sicher nicht ganz von ungefähr, denn die Ich-Erzählerin stellt ihr eigenes Leben dem genau 100 Jahre vor ihr geborenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj entgegen, der als irgendwie tragisch-zauderlicher Dichter, Landadeliger und Gesandter von einer eigenständigen Ukraine träumte.
Die Erzählerin, die nach mehreren gescheiterten Beziehungen unter Panikattacken leidet und ihre Wohnung am liebsten gar nicht mehr verlassen würde, stand eigentlich bereits am Beginn einer vielversprechenden literarischen Karriere. Nun aber sieht sie sich als «Königin des Schimmels», die sich in der sicheren heimischen Umgebung ihren Ängsten hingibt («Anstatt meinen Verstand zu trainieren, übte ich mich im Leiden»). Ähnlich neurotisch-besessen wie mit ihrer Panik vor der Außenwelt befasst sie sich mit Lypynskyj, auf den sie bei der Durchsicht alter Zeitungen gestoßen ist und den sie nun mit ihren Forschungen dem Vergessen entreißt.
Grandios gescheitert, beruflich wie privat, ist nämlich auch Lypynskyj, der mit seiner Entscheidung für die ukrainische Sache gegen die eigene, polnisch-katholische Kleinadelsfamilie mit Gut in der heutigen Westukraine rebellierte. Emigration und politische Winkelzüge, Kaffeehausdiskussionen und die Bemühungen um Eigenstaatlichkeit in einer Region, die teils Teil des Habsburgerreiches, teils des zaristischen Russlands war - Maljartschuk schreibt darüber in einem poetisch-altmodischen Stil, der wie die Stimme einer untergegangenen Epoche klingt und den perfekten Kontrapunkt zu den Kapiteln aus der Perspektive der Ich-Erzählerin in der Gegenwart schreibt.
Welche Rolle spielt die Vergangenheit, um in der eigenen Gegenwart zurecht zu kommen? Das ist die Frage, die auch die 100 Jahre nach Lypynskyj geborene Erzählerin umtreibt. Hat diese Parallele etwas zu bedeuten? Was kann sie aus dem Leben Lypynskyjs für ihr eigenes lernen?
Rückblicke auf die eigene Familiengeschichte, die Putzzwänge der während der «großen Hungers» früh verwaisten Großmutter beschreiben zugleich das Schicksal der Ukraine, mit der viele zeitgenössische Leser wohl vor allem die Besetzung der Krim und den anhaltenden Konflikt im Osten des Landes in Verbindung bringen. Die Beschäftigung mit dem Vergangenen gerät dabei zur Psychotherapie.
Maljartschuk kann schreiben - gar keine Frage. Ein wenig sperrig liest sich das Buch dennoch, ein bißchen eben wie ein Bildungsroman des 19. Jahrhunderts. Allzu aktionsreich kann es eben nicht sein, wenn der eine Romanheld in Lungensanatorien dahinsiecht und die andere in den Ecken ihrer Wohnung gegen die innere Panik ankämpft. Trotzdem interessant.

Tanja Maljartschuk, Blauwal der Erinnerung
Verlag Kiepenheuer & Witsch,  Köln 2019
ca 285 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-462-05220-6

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