Kriegsverbrechen, Fake Identität und der Kampf um späte Gerechtigkeit "Hannah und ihre Brüder"

Ist Elliot Rosenzweig ein honoriger Bürger, Mäzen der schönen Künste und Holocaust-Überlebender, der sich in den USA äußerst erfolgreich eine Existenz aufgebaut hat - oder ist er ein Kriegsverbrecher, der sich perfide ausgerechnet als Nazi-Opfer getarnt hat, um mit seiner neuen Identität problemlos in den USA zu leben? Das ist die Frage, mit der sich die Anwältin Catherine in Ronald Balsons Buch "Hanna und ihre Brüder" befassen muss. Ihr Mandant Ben Solomon hat Rosenzweig während einer Gala öffentlich mit dem Vorwurf konfrontiert, der "Schlächter von Zamosc" gewesen zu sein.

Eher unwillig übernimmt Catherine das Mandat auf Bitte ihres alten Freundes Liam. Sie ist eine vielbeschäftigte angestellte Anwältin in einer großen Kanzlei, der eher umständliche, weitschweifig erzählende 83-jährige Ben ist für sie zunächst eine harte Geduldsprobe. Doch dann packt sie der Fall, das Schicksal des alten Mannes, der überzeugt ist, dass Elliott Rosenzweig Otto Piontek ist, sein deutsch-polnischer Ziehbruder, den seine Familie während der Wirtschaftskrise in Polen bei sich aufgenommen hatte.

Je mehr Catherine über das Schicksal der Familie Solomon unter der deutschen Besatzung erfährt, von der Veränderung Ottos, der "seine" jüdische Familie anfangs noch unterstützte, sich dann aber nach und nach zum machtverliebten Vollblutnazi entwickelte und die Menschen bestahl, die ihn bei sich aufgenommen hatten, desto deutlicher wird ihr, dass sie diesen Fall vor Gericht ausfechten muss. Subtiler Druck ihrer Vorgesetzten wird zu offener Kritik, einem Rausschmuss kommt sie zuvor, indem sie die Kanzlei von sich aus verlässt und alles auf eine Karte setzt, um Ben zu helfen.

In zahlreichen Rückblenden geht es um die Geschichte der Familie Salomon, um Bens Jugendliebe Hanna, das tragische Schicksal seiner jüngeren Schwester, um polnischen Widerstand und die Angst vor Verrat. Das sind die wohl eindringlichsten Teile dieses Bucbes, das eine Mischung aus historischem Roman und Anwaltsthriller ist.

Die Widerstände, gegen die Catherine im Rechtssystem kämpfen muss, sind groß, und die Aussichten erscheinen angesichts der finanziellen Möglichkeiten und Medienkontakte Rosenzweigs denkbar schwierig. Ist Ben ein verwirrter alter Mann, oder ist er einer der letzten Augenzeugen, die einen Kriegsverbrecher nach Jahrzehnten der Gerechtigkeit überführen können?

Trotz einiger historischer Fehler ist dem Buch umfangreiche Recherche zu den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg anzumerken. In manchen Details hätte es nicht geschadet, wenn der Autor etwa den Eltern des aus Frankfurt stammenden Rosenzweigs deutsche und nicht amerikanische klingende Namen gegeben hätte. Auch dass dieser  im Jahr 1921 schwerlich als "Elliott" geboren worden sein dürfte ist eine dieser Kleinigkeiten, die den ursprünglich englischsprachigen Lesern vermutlich weniger aufgefallen sein dürften.Umgekehrt macht der Originaltitel "Once we were Brothers" angesichts der Geschichte deutlich mehr Sinn.

Gleichzeitig ist es irgendwie ein sehr amerikanisches Buch - Catherine scheint sich der Ereignisse im besetzten Polen nur eher vage bewusst gewesen zu sein, und Bens Erläuterungen sind für sie (und die ähnlich uninformierten Leser?) ein historischer Aufklärungsunterricht.

Völlig unnötig empfand ich das eher süßlich anmutende Ende des Buches - das schien eher ein Zugeständnis an sentimentalen Lesergeschmack zu sein und wirkte auf mich irgendwie sehr amerikanisch, als hätte der Autor gleich die Hollywood-Umsetzung im Hinterkopf gehabt. Eigentlich schade, nimmt dem Buch aber nichts von dem spannenden Plot und seinen Fragen nach Macht und Moral, nach Gerechtigkeit und Erinnerung und dem Appell, dass nur Aufklärung und Information helfen, den Sieg über Gleichgültigkeit und Vergessen davon zu tragen.

Ronald H. Balson, Hannah und ihre Brüder
Aufbau-Verlag, 2019
498 Seiten, 12,99
ISBN 978-3-7466-3509-5

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Slow Horses im Schneegestöber - Mick Herron glänzt erneut

Kinderwunsch - aber koscher!

Das Leben kommt immer dazwischen