Letzter Freundschaftsdienst für eine ermordete Prostituierte - "Unerhörte Stimmen"

Mit "Unerhörte Stimmen" hat die türkische Schriftstellerin Elif Shafak ein liebevolles Porträt gesellschaftlicher Außenseiter gezeichnet, Das Schicksal der ermordeten Prostituierten Leila wird zur Parabel einer kaputten und heuchlerischen Gesellschaft und ihrem Umgang mit jenen die aufgrund ihrer Sexualität, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer "Moral" und unerhört gelten und deren Stimmen von den meisten ungehört überhört werden.

Zum Beispiel Leila, die toughe, ungeduldige Sexarbeiterin, deren Leiche in einem Müllcontainer gefunden wid, buchstäblich weggeworfen wie Abfall, als sei sie nichts als Dreck. Und doch erlebt der Leser Leila als überaus lebendig, mit einem wirbelnden Gedankenstrom.  Leila ist tot, doch ihr Gehirn arbeitet äußerst aktiv, und im ersten Teil von "Unerhörte Stimmen" ist jedes Kapitel einer jener 10 Minuten (und 38 Sekunden) gewidmet, die das Gehirn einer Studie zufolge nach Eintritt des Todes noch arbeitet.

Für ihre Familie ist Leila, die mit 17 Jahren aus einer ostanatolischen Kleinstadt nach Istanbul geflohen ist, schon viel länger gestorben. Schande habe sie über sie gebracht, hieß es. Dabei war es der Onkel, der das kleine Mädchen missbraucht hatte und ihr einredete, sie habe ihn verführt. Als sie ausgerechnet seinen Sohn heiraten soll, läuft Leila davon. Doch in Istanbul geht es für das Mädchen, das von Bildung träumte, auch nicht gerade rosig weiter. Ins Bordell verkauft, zerplatzen ihre optimistischen Träume schnell.

Doch Leila erweist sich als Kämpferin und auch in der Straße der Bordelle findet sie Freunde - die Transfrau Nalan, die afrikanische Prostituierte Jamila.die zwergwüchsige Zaynab die Nachtklubsängerin Humeyra, die vor einem prügelnden Ehemann nach Istanbul geföohen ist und Kindheitsfreund Sinan, der Leila nach Istanbul gefolgt ist.

Es sind diese Freunde, auf die die tote Leila baut, denn ihre große Liebe D/ali, ist bei einer Demonstration von der Polizei erschossen worden. Doch die fünf, die Leila durch Höhen und Tiefen des Lebens in der Straße der Bordelle begleitet haben, halten ihrer Freundin über den Tod hinaus die Treue, während die Behörden den Mord an der Prostituiuerten nur halbherzig verfolgen. Dass sie auf dem "Friedhof der Geächteten" ein anonymes Grab findet. wollen sie nicht akzeptieren. Ihr letzter Freundschaftsdienst ist ein Befreiungsschlag für die Seele einer Frau, die sich nicht als Opfer sehen wollte.

"Vieles in diesem Buch ist wahr und alles ist erfunden", schreibt die in London lebende Shafak in ihrer Anmerkung am Ende dieses zutiefst menschlichen, unsentimentalen Romans."Unerhörte Stimmen" spielt nicht in der türkischen Gegenwart, doch die Kluft zwischen Tradition und Moderne, zwischen Religiosität  und säkularer Gesellschaft sind zeitlos. Shafak bezieht klare Position für die Ausgestoßenen und Außenseiter, die nur in der Halbwelt einen Platz finden. "Unerhörte Stimmen" ist ein Plädoyer für Toleranz und ein Loblied auf Freundschaft. Dieses Istanbul ist weit entfernt von der Pracht der Blauen Moschee, doch trotz aller Tristesse voller Lebensfreude und Behauptungswillen. Ein faszinierendes, kraftvolles und trotz des Todes lebensstrotzendes Buch.


Elif Shafak, Unerhörte Stimmen
Kein & Aber, 2019
ca 430 Seiten,
ISBN  978-3-0369-5790-6

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