Von der Bahnhofshalle in den Konzertsaal - modernes Märchen nach Noten

Die Situation hat sicher jeder schon mal erlebt: Ein Großstadtbahnhof, ein Einkaufszentrum oder eine Flughafenhalle und irgendwo steht ein mehr oder weniger verstimmtes Klavier, an dem jeder, der Lust hat, sich ausprobieren kann. Manch einer klimpert einfach nur auf den Tasten, öfter klingt es sogar ganz nett und manchmal ist da so ein magischer Moment, der das hektische Treiben unterbricht, weil da gerade jemand richtig gut in der zugigen Bahnhofshalle spielt.

So einen Moment erlebt Pierre Geithner, Direktort des Pariser Konservatoriums, als er einen jungen Mann im Gare du Nord eine Chopinsonate spielen hört. Geithner, beruflich und privat gerade ziemlich angeschlagen, erkennt ein Ausnahmetalent, wenn er es hört. Sein Versuch, zu dem jungen Mann Kontakt aufzunehmen, geht erst mal ziemlich daneben - gerade schafft er es noch, ihm seine Visitenkarte zuzustecken.

So weit der Auftakt von "Der  Klavierspieler vom Gare du Nord" von Gabriel Katz. Klaviertalent Mathieu, der als Sohn einer polnischen Putzfrau in einer der Pariser Vorstädte aufgewachsen ist und sich mit kleinen Gaunereien und Gelegenheitsjobs über Wasser hält. macht sich erst mal auf die Socken. Er glaubt an unerwünschte Avancen des älteren Mannes und überhaupt - er will keinen Ärger bekommen mit irgendeinem Bürgerlichem.

Nur bald darauf kommen Matthieu und Geithner doch noch zusammen - nämlich als das junge Talent bei einem Einbruch geschnappt wird und den Kosvervatoriumschef um Hilfe bittet. Statt des eigentlich fälligen Jugendknasts gibt es eine Sozialstrafe, Matthieu soll Putzdienste im Konservatorium ableisten.

Doch Geithner hat in der Tat Hintergedanken: Der musikalische Rohdiamant soll zum Juwel geschliffen werden. Matthieu kann weder Noten lesen noch hatte er je systematischen Musikunterricht, von Technik an den Tasten und Pedalen hat er keine Ahnung aber das Klavier "spricht"zu ihm. Nur zögerlich lässt sich Matthieu auf Geithners Vorschläge ein. Mit dem Drill und der Disziplin, die die "Eisgräfin", seine strenge Lehrerin von ihm fordert, hat er so gar nichts am Hut. Der Unterricht wird auch zum Kampf der Temperamente.

Eine schöne Cellistin, ebenfalls Musikstudentin, stürzt Matthieu in zusätzliche Verwirrung. Der Junge aus der Vorstadt fremdelt gewaltig mit dem elitären Milieu, in dem er sich auf einmal bewegt. Mit Coolness und Rotzigkeit versucht er zu zeigen, dass ihm das alles nicht imponiert und er ja jederzeit wieder gehen könnte.

Katz kann die Klischeefalle bei der Begegnung zweier Welten nicht ganz vermeiden. Alles in allem hat er eine Art modernes Märchen nach Noten geschrieben, über den Zauber der Musik und ihre Kraft, ein Leben zu verändern. Dass es dann nach Komplikationen, Krisen und Läuterungen letztlich nur auf ein happy end hinaus laufen kann, erschließt sich dem Leser schon früh. Die Charakter- oder Miliuestudie gerät da ein wenig flach, die Faszination an der Musik dagegen zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, das man eigentlich mit Chopin, Bach oder Rachmaninoff im Hintergrund lesen sollte. Ein bißchen mehr Tiefe hätte dem Buch nicht geschadet, der Schluss ist eher aprupt, als habe der Autor es jetzt nur ganz schnell zu Ende bringen wollen. Dennoch ein unterhaltsames Wohlfühlbuch über den Zauber der Musik.

Gabriel Katz, Der Klavierspieler vom Gare du Nord
S. Fischer Verlag, 2019
348 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-10397-465-2

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