Episch, gewaltig, meisterhaft / Olga Tokarczuks "Jakobsbücher"

Um es gleich mal vorwegzunehmen: "Die Jakobsbücher", Olga Tokarczuks kurz vor der Nobelpreisverleihung auf Deutsch erschienener Roman, ist kein Buch, dass man mal eben so nebenbei liest. Das liegt zum einem am Umfang - fast 1200 Seiten. Es liegt aber auch am Inhalt, der den Lesern Zeit, Konzentration und mitunter Geduld für viele Erzählstränge und Handlungsträger abverlangt.

Wer sich darauf einlässt, wird belohnt. "Die Jakobsbücher" ist episch, ein gewaltiger historischer Roman voll mit Reflektionen über Nationen und Grenzen, über Religion und Mystik, über enge Welten und große Geister. Von Rohatyn in der heutigen Westukraine bis nach Offenbach führt dieser große Roman über Jakob Frank, der als "Luther der Juden" galt - für die einen ein Ketzer und Scharlatan, für die anderen ein Messias, ein Mann, der Religionen und Nationalität wechselte, der faszinierte und abstieß.

Nur wenige Tage nach Bekanntgabe des Nobelpreises sagte Tokarczuk, am meisten sei sie durch die multikulturelle Tradition ihrer polnischen Heimat geprägt, berief sich auf Bruno Schulz, dessen Buch "Die Zimtläden" als eines der Meisterwerke der polnischen Literatur des frühen 20. Jahrhunnderts gilt. Schulz war Jude, doch im Unterschied etwa zu Isaak Bashevi Singer, seinem literarischen Zeitgenossen, schrieb er seine Bücher nicht in jiddischer, sondern in polnischer Sprache, begriff sich vor allem als polnischen Schriftsteller. Schulz stammte aus Drohobicz, einem ostpolnischen Städtchen im heutigen Dreiländereck von Polen, Weißrussland und der Ukraine.

Damals war das alles Polen, jenes im Zweiten Weltkrieg untergegangene Polen der vielen ethnischen Minderheiten, der unterschiedlichen Sprachen und Religionen. In einer ähnlichen Region spielt auch ein großer Teil der Handlung von "Die Jakobsbücher". Rohatyn, wo die Erzählung ihren Anfang nimmt, liegt unweit von Lemberg - auf Polnisch Lwow, auf Ukrainisch Lviv. Im 18. Jahrhundert, in der Schlussphase der polnisch-litauischen Adelsrepublik, war dies gewissermaßen ein provinzieller Außenposten, fernab de großstädtischen Lebens in Warschau, Wilna oder Krakau. Es war die Welt der Stetl mit ihren überwiegend jüdischen Handwerkern und Händlern, den unfreien ruthenischen oder ukrainischen Bauern, der polnischen Magnaten und Angehörigen des Kleinadels, der Szlachta. Das osmanische Reich, gewissermaßen ein politisch-religiöser Gegenpol, war nicht weit.

Olga Tokarczuk zeichnet diese Welt wie ein Monumentalgemälde, gewissermaßen auf der literarischen Großleinwand. Voller Wucht bereits die Beschreibung eines Markttags in Rohatyn auf den ersten Buchseiten, von strohbedeckten Katen, von Kirchen und Synagogen, vom Alltag und der Armut der kleinen Leute. "Je tiefer der Blick in die Seitengassen dringt, desto schärfer springt die Armut ins Auge, wie eine ungewaschene Zehe im löchrigen Stiefel", schreibt sie etwa. "An den Lumpen ist nicht zu erkennen, ob es jüdisches, orthodoxes oder katholisches Elend ist. Die Armut kennt weder Konfession noch Staatspapiere."

Diese Welt im heutigen Südostpolen und der heutigen Westukraine ist auch die Region, in der der Chassidismus seinen Ursprung hatte, aber auch Mystiker. So eben auch Frank, der im Osmanischen Reich zum Islam, später in Polen mit seinen Anhängern zum Christentum konverierte. Für ihn waren Grenzen in Tokarczuks Buch fließend - ob es sich nun um Grenzen zwischen Staaten oder zwischen Religionen handelte. Wien und Warschau, Offenbach und Lemberg, Adels- und Bischofspaläste wie auch die Welt der Gassen und der Strohhütten sind die Handlungsorte der "Jakobsbücher" und auch wenn es um die Lebensgeschichte Jakob Franks geht, handelt es sich doch eigentlich um das Porträt einer ganzen Epoche.

Eine Klammer in dieser monumentalen Erzählung, wenn es sie denn gibt, bilden die Geschichte und die Gedanken der alten Jenta, Franks Großmutter, die gewissermaßen zwischen Leben und Tod über dem Geschehen schwebt, beobachtet und denkt, fast wie eine der schwebenden Figuren eines Chagall-Gemäldes, bis hinein ins Zwanzigste Jahrhundert, wenn Jakob Frank längst nur noch Geschichte ist.



Olga Tokarczk, Die Jakobsbücher
Kampa Verlag, Zürich 2019
1174 Seiten, 42 Euro
ISBN 978 3 311 10014 0

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