"Getauschte Heimat" - Zwischen Tel Aviv und Berlin

Zwei Frauen, zwei Länder, zwei Erfahrungen mit Fremdheit und Ankommen - ein Briefwechsel. Auf diesen Satz lässt sich in Kurzform "Getauschte Heimat" von Yael Levin und Anja Reich bringen. Die israelische Musikerin und die deutsche Journalistin kennen sich kaum,als sie noch in gegenüberliegenden Wohnungen im Prenzlauer Berg leben.

Kein Wunder - Yael ist mit ihrer Familie erst seit gerade mal einem Jahr in Berlin, der Stadt, die möglicherweise die neue Heimat für sie und ihre Familie wird. Ihr Mann hatte einen Anspruch auf einen deutschen Pass, die politische Entwicklung in ihrer Heimat fanden sie schon länger bedrückend. Die neue Sprache, die andere Mentalität, das andere Klia - Yael ist noch mitten im Eingewöhnungsprozess.

Anja wiederum ist da bereits im Aufbruchprozess. Für zwei Jahre geht sie mit ihrem Mann, ebenfalls Journalist, nach Israel. Die beiden Frauen, die sich über ein Nachbarschaftsnetzwerk kennengelernt haben, beschließen, in einen Briefwechsel zu treten. Jede kann der anderen so Fragen zu der neuen, der getauschten Heimat beantworten, kann Fragen stellen zu den Unsicherheiten, kann bei der Orientierung im neuen Land helfen. Von Brief zu Brief wächst eine Freundschaft, werden die geschriebenen Dialoge tiefer und intensiver.

Denn es ist ja schon an sich nicht ganz unkompliziert, das vertraute Leben hinter sich zu lassen und in einem anderen Land neu anzufangen. Nicht als Tourist zu kommen, sondern als jemand, der zumindest ein paar Jahre bleibt. Eine neue Sprache, andere bürokratische Regelungen, ein neuer Lebensrhythmus. Und dann noch als Deutsche in Israel, als Enkelin von Holocaust-Überlebenden im Land der Täter. Da reist natürlich auch ein ganzer Packen Geschichte mit, wird viel reflektiert und gefragt. Es öffnen sich aber auch ganz neue Chancen.

"Es ist wohl Glücksache, wann man auf welcher Seite einer Mauer geboren wird", schreibt Yael in einem ihrer Briefe. Es gibt Dinge in Berlin, die sie als Befreiung erlebt - etwa die Freundschaften mit Syrern und Libanesen, die sie in ihrem Deutsch-Sprachkurs kennengelernt hat. Das sind Freundschaften, die in der jeweiligen Heimat nicht möglich gewesen wären. Doch zugleich fragt sie sich, ob sie damit klar kommt, dass ihre Kinder, die in Berlin eine internationale Schule besuchen und mittlerweile perfekt dreisprachig sind, sich irgendwann einmal mehr als Deutsche denn als Israelis fühlen könnten.

Die Erwachsenen sind da noch weiterhin Wanderer zwischen den Welten, leben zwischen zwei Kontinenten, zwischen wachsender Vertrautheit mit der neuen Heimat und den festen Bindungen zur alten, die mit Familienbesuchen gestärkt wird. Viel Alltag, viel Entdeckungsfreude kommt in den Briefen zum Ausdruck, aber auch die Fragen nach den schweren Themen - was bedeutet es für Yael, in Berlin an Häusern vorbei zu gehen, deren jüdische Bewohner einst in die Vernichtungslager deportiert wurden? Wie empfindet Anja den Nahostkonflikt, das drückende Gefühl historischer Schuld?

Die Migrationserfahrung von Yael und Anja, sie ist eine exklusive, beide müssen weder um ihren Aufenthaltsstatus noch um ihren Lebensunterhalt bangen, sie können zwischen ihren getauschten Heimaten hin und her reisen. In einem fremden Land ein Zuhause zu finden - diese Herausforderung müssen auch sie meistern. An diesem Weg lassen sie über ihren Briefwechsel die Leser anschaulich teilnehmen.  


Yael Nachshon Levin, Anja Reich, Getauschte Heimat
Aufbau Verlag, Berlin 2019
224 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-8412-1839-1

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